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    Stammheim
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Stammheim
    Von Björn Becher

    Als Reinhard Hauff 1986 seinen Film „Stammheim“ auf der Berlinale vorstellte und den Goldenen Bären gewann, zog das einen Skandal nach sich. Die damalige Jury-Präsidentin Gina Lollobrigida lehnte die demokratische Entscheidung der Jury offen ab, brach während der Preisverleihung die sonst bei gemeinsamen Juryentscheidungen übliche Schweigepflicht und tat ihre Ablehnung des Films kund. An dem Gewinn des Goldenen Bären änderte dies natürlich genauso wenig wie der Verleihung des FIPRESCI-Preises, den die internationale Vereinigung der Filmkritiker bei zahlreichen Festivals, darunter der Berlinale immer wieder vergibt. Es zeigt aber die sehr kontrovers mögliche Rezeption von Hauffs in enger Zusammenarbeit mit Ex-„Spiegel“-Chefredakteur und RAF-Experte Stefan Aust entstandenem Werk, welches eines der turbulentesten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte in fast dokumentarischer Form aufarbeitet.

    Stammheim ist heute der Ort, der am meisten mit der RAF verbunden wird. In der Justizvollzugsanstalt des Stuttgarter Stadtteils saßen ihre Führungsköpfe in einem extra nur für sie abgeriegelten Teil des Gefängnisses ein. Und auf dem Gelände wurde eine gepanzerte Mehrzweckhalle gebaut, die eigens für einen der Aufsehen erregendsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte entstand. Dieser begann im Mai 1975 und endete nach turbulenten Verhandlungen erst 1977. Hauffs Film zeichnet jenen Prozess nach und liefert so ein eindrucksvolles Bild des Kampfes einer teilweise fast hilflosen Justiz gegen zahlreiche Anträge der Angeklagten, die mal völlig verquer und sinnlos sind, mal von juristisch hoher Relevanz.

    Angeklagt sind Andreas Baader (Ulrich Tukur), Ulrike Meinhof (Therese Affolter), Gudrun Ensslin (Sabine Wegner) und Jan-Carl Raspe (Hans Kremer), wobei sich Meinhof während des Prozesses, isoliert und gedemütigt durch ihre einstigen Mitstreiter, umbringen wird. Ihnen gegenüber steht ein Vorsitzender Richter (Ulrich Pleitgen), der versucht, einen entpolitisierten, „normalen“ Strafprozess zu führen, aber schnell an dem Widerwillen der Angeklagten und den geschickten Manövern ihrer Verteidiger (Hans Christian Rudolph, Peter Danzeisen, Holger Mahlich, Marina Wandruszka) scheitert und dem so die Leitung der Verhandlung immer mehr aus den Händen gleitet.

    Hauff und Aust, der mit dem Buch Der Baader-Meinhof Komplex (wird aktuell von Produzent Bernd Eichinger verfilmt) für das Standardwerk über die RAF schlechthin verantwortlich ist, orientieren sich ganz stark an den Gerichtsprotokollen. Hauff: „Es hätte niemand so intelligente Dialoge schreiben können, wie sie die Angeklagten ausgesprochen haben.“ Diese freiwillige Reduktion hat den Vorteil, dass keine überflüssige Dramatik in den Film einkehrt, die dieser nicht nötig hat. Denn der Ausgangsstoff ist schon dramatisch genug. Zudem verringert es natürlich die Gefahr der ideologisch motivierten Schelte aus den verschiedenen politischen Lagern. Man denke nur an Christopher Roths 2002 in den Kinos gelaufenen „Baader“. Roth wagte es, einen interpretatorischen Ansatz zu verfolgen, die reale Geschichte teilweise massiv zu verändern (vor allem mit dem an Zwei Banditen angelehnten Finale) und bekam in der Folge massive Prügel, sowohl von konservativer als auch von linker Seite, mit jeweils gegenläufiger Begründung.

    Hauff und Aust weichen nur bei den Verteidigern von ihrer dokumentarischen Herangehensweise ab. Um den Zuschauer nicht mit einem ständigen Wechsel der Personen zu verwirren, sind die gleichen vier Wahlverteidiger ständig präsent sowie eine Reihe von Pflichtverteidigern, bei denen aber nur einer zeitweise im Fokus steht. Die Anwälte werden daher auch nie mit Namen benannt, da in ihnen jeweils mehrere reale Personen zusammengefasst sind. Zudem weicht Hauff bei der Besetzung stark von den historischen Vorbildern ab. Er legte keinen Wert auf eine optische Ähnlichkeit, sondern wollte Schauspieler, die aufgrund ihrer darstellerischen Fähigkeiten optimal auf die Rolle passen, griff dabei größtenteils auch auf das Ensemble des Thalia Theaters Hamburg zurück, welches die Produktion unterstützte. Dies erweist sich gerade bei der Besetzung der vier RAF-Terroristen als Glücksgriff.

    Hintergründe werden nahezu komplett ausgeblendet. Außerhalb der Szenen vor Gericht wird fast nichts gezeigt. Ausnahmen bilden kurze Eindrücke von den Gefangen in den Zellen, Szenen, die vermitteln wie Ulrike Meinhof langsam aus der Gruppe ausgegrenzt wird bzw. sich selbst von ihr löst. Einige Aufnahmen der starken Bewachung der Turnhalle unterbrechen zwischenzeitlich die wortwörtlichen Wiedergaben der Gerichtsverhandlung. Die Konzentration liegt allerdings klar auf den Wortwechseln zwischen Gericht auf der einen sowie den Verteidigern und den Angeklagten auf der anderen Seite.

    Hauffs gespielte Dokumentation hat dabei ein klares Zentrum. In der Kritik steht das Versagen der Justiz, die sich als völlig überfordert zeigt, in dem Bemühen, jede politische Note auszublenden. So sind es auch nicht die vier Terroristen, die im Mittelpunkt stehen, sondern der Vorsitzende Richter. TV-Darsteller Ulrich Pleitgen („Das Phantom“, TV-Serie „Nicht von schlechten Eltern“) brilliert in der Richterrolle und gibt mit Mimik und Gestik viel von den Aussagen des Films wieder. Er mimt den Mann als einen Menschen, der sich deutlich zu stark von seinen Gefühlen leiten lässt. Immer wieder bewegen sich die Augen wild, immer öfter wirkt er fahrig, leicht unkontrolliert und viel zu oft mischt er in seine Entscheidungen persönliche Gefühle. Die ständigen Ablehnungsanträge durch die Angeklagten und die Verteidiger provozieren ihn, schnell erledigt er sie nicht mehr nüchtern, sondern weist sie brüsk von sich, ohne sich mit ihnen auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen.

    Wie wichtig Hauff dieser Gesichtspunkt ist, zeigt auch die Zelebrierung des heute legendären 62. Ablehnungsantrag, dem ersten, dem sich einer der Pflichtverteidiger anschließt. Der wurde – und dies zeigt der Film danach (in einer der wenigen Szenen außerhalb des Gerichtssaals) – vom Vorsitzenden Richter angerufen, der ihm in verzweifelter Stimme von seinen Nöten schildert, was im 63. (schließlich erfolgreichen) Ablehnungsantrag mündet. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Abhörung von Gesprächen zwischen den Verteidigern und ihren Mandanten öffentlich. Der Umfang dieser Abhörung ist auch heute noch umstritten und mit einer der Gründe, warum das Verfahren aus juristischer Sicht immer mit einem Makel behaftet sein wird.

    Dass Hauff und Aust es weitestgehend unterlassen, die vier Terroristen zu demaskieren, ihre – teilweise absurden – Anträge offen zu entlarven und stattdessen stärker die Fehlerseite auf der Seite der Judikativen zeigen, hat ihnen die Kritik, nicht nur von Gina Lollobrigida, eingebracht. In dem einen oder anderen Moment wäre es durchaus möglich gewesen, den Zuschauer noch ein wenig stärker auch auf diesen Punkt zu lenken, aber dies ist eigentlich nicht nötig. So verbleibt dem Betrachter die offene und eigene Auseinandersetzung und Meinungsbildung über das juristische Vorgehen der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Dabei zeigt sich schnell: Viele ihrer Anträge sind verquer, ausschließlich auf Verzögerung oder Provokation ausgelegt, viele haben aber auch eine starke inhaltliche Note und hätten der Auseinandersetzung bedurft.

    Die extreme Reduktion von „Stammheim“ verhindert, dass der Film eine inhaltliche Beschäftigung mit den Mordtaten der RAF selbst darstellt, das will er aber auch gar nicht sein. Er ist ein starkes Dokument jenes Prozesses, der die Nation diskutieren ließ und über den sich auch heute noch vortrefflich streiten lässt. Dazu liefert „Stammheim“ einen hervorragenden Anstoß.

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