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    Waves
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Waves

    Ein Wellenbad der Gefühle

    Von Lucas Barwenczik

    Die Gefühle wogen auf und ab, türmen sich zu Bergen auf und stürzen wieder in sich zusammen. Stille Wasser werden aufgewühlt, Tränen drängen wie Gischt an die Oberfläche. „Waves“, der dritte Spielfilm des texanischen Indie-Regisseurs Trey Edward Shults, trägt seinen Titel zweifellos zurecht. Nach seinem stark autobiografischen Debüt „Krisha“ und dem Arthouse-Horror-Hit „It Comes At Night“ widmet er sich erneut den Widersprüchen der bürgerlichen Familie. Sie kann heilen und verletzen, sie verbindet und trennt. Wie Ebbe und Flut zieht sie Menschen abwechselnd mit aller Kraft an und drängt sie nur wenig später mit derselben Gewalt wieder fort. „Waves“ ist oft ein effektvoller Film, aber auch ein widersprüchlicher. Das Drama überschwemmt das Publikum mit visuellen Ideen und auffälligen Stilmitteln. Manchmal entsteht dadurch eine anrührende Nähe, oft aber auch eine kalte Distanz.

    Es ist eine Geschichte, die in zwei Teile zerfällt. Die erste Hälfte erzählt von Tyler Williams (Kelvin Harrison Jr.), einem 18-jährigen Highschool-Schüler und erfolgreichen Ringkämpfer. Sein strenger, unterkühlter Vater Ronald (Sterling K. Brown) verlangt ihm immer neue Höchstleistungen ab. Tyler ist ambitioniert, er träumt von einem Sportstipendium fürs College und einer Profikarriere. Vielleicht sind das allerdings auch nur die Träume seines Vaters für ihn. Eine zu lange ignorierte Schulterverletzung und ein großer Streit mit seiner Freundin Alexis (Alexa Demie) führen zu tragischen Ereignissen. In der zweiten Hälfte des Films muss Tylers Schwester Emily (Taylor Russel) mit den Folgen kämpfen. Einen Verbündeten findet sie dabei in ihrem schüchternen Mitschüler Luke (Lucas Hedges). Doch der hat selbst eine komplizierte Beziehung zu seiner Familie…

    Tyler Williams gehört die erste Hälfte des Films ...

    Tyler führt ein ruheloses Leben. Jeder Tag ist für ihn ein Sprint ohne Atempause. Die erste Hälfte des Films, seine Hälfte, spiegelt diese Erfahrung auch inszenatorisch wider. Sie ist voll von schnellen Kamerafahrten, immerzu rotiert der Blick. Alles dreht sich um Tyler, im wahrsten Sinne des Wortes. Kelvin Harrison Jr. spielt ihn aufgekratzt und gehetzt. Ein verunsicherter Teenager im massiven Ringer-Körper, der sich selbst zu entkommen versucht. Wird ein neuer Schauplatz präsentiert, gibt es oft keine klassische Totale. Stattdessen stürmt die Kamera ins Gebäude. Immer werden derartige Fahrten eingesetzt, nie ein Zoom oder ein Schnitt. Alles muss sich bewegen, muss fließen. Immer.

    Manchmal wirkt es, als sollte der Zuschauer seekrank werden. Von der Tonspur dröhnen Indie- und Rap-Stücke, ununterbrochen. Ein Lied wird ausgeblendet, das nächste beginnt. Nur keine Ruhe, nur kein Stillstand! Die Songauswahl ist ein wenig plump. Tyler hat Beziehungsstress, also rappt The Creator aus dem Off „I fucking hate you / But I love you”. Tyler gibt sich seinem Größenwahn und Egoismus hin, also wird Kanye West mit „I Am a God“ gespielt. Später, wenn alles ein bisschen nachdenklicher und melancholischer wird, läuft Radiohead. Subtil ist anders.

    Die Welt wird enger – und mit ihr das Kinobild

    Als sich nach und nach Tylers Zukunft verdunkelt, tut der Film es ihr gleich. Wie etwa der kanadische Regisseur Xavier Dolan in Filmen wie „Mommy“ und „Sag nicht, wer du bist!“, benutzt auch Trey Edward Shults verschiedene Seitenverhältnisse, um das Innenleben der Figuren darzustellen. Als Tyler erschöpft in der Badewanne einschläft, braucht es nur einen Schnitt – und plötzlich bedrängen ihn schwarze Balken von unten und oben. Die Wände kommen näher. Die Welt scheint nicht mehr so frei und offen, so voller Möglichkeiten, wie noch zuvor. Zuletzt bleibt ihm nur noch das beengende 4:3-Format, er ist ganz und gar gefangen.

    Die zweite Hälfte des Dramas beginnt genauso, Emily hat sich von der Welt zurückgezogen und lebt isoliert. Dann breitet sich das Bild wieder aus, immer weiter. Am Ende füllt es wieder die ganze Leinwand, genau wie in den ersten 20 Minuten. Ein horizontaler Film wird erst vertikal, dann wieder horizontal. Somit vollführt der Film insgesamt eine große Wellenbewegung. Das ist natürlich ein interessantes Konzept, verweist aber auch auf den merkwürdigen Indie-Formalismus, der Shults‘ Filme prägt. Er präsentiert seine Gestaltungsmittel ganz offen und versucht gar nicht erst, sie in Handlung oder Atmosphäre verschwinden zu lassen.

    .. bevor dann in der zweiten Hälfte immer mehr seine Schwester Emily ins Zentrum rückt.

    Daran ist erst einmal nichts falsch, viele Regisseure haben sehr wirkungsvoll so gearbeitet. Für seine Art von Melodrama scheint dieser Ansatz jedoch nicht gemacht. Er will mit seinem Film nicht analysieren oder dekonstruieren, er will ganz offenkundig mitreißen und überwältigen. Leider ist man oft mehr mit der Frage beschäftigt, warum genau die Kamera sich jetzt schon wieder im Kreis dreht, als mit den Emotionen des Moments. Hier wäre weniger mehr gewesen. Das ist auch der Grund, warum Emilys Teil der Geschichte ungleich besser gelingt. Ihre Geschichte wird unmittelbarer erzählt und wirkt dadurch ehrlicher und wahrhaftiger.

    Man wäre dem ehemaligen Terrence-Malick-Praktikanten Shults sicher wohlgesonnener, wenn es denn wirklich seine Bilder wären. Doch irgendwie erhebt sich „Waves“ nie ganz aus der endlosen Flut von amerikanischen Indiewood-Produktionen. Wenn Trey mit seiner Freundin halb im Ozean steht und die Kamera exakt auf der Wasseroberfläche schwimmt, dann wird man zwangsläufig an Barry Jenkins‘ Oscar-Erfolg „Moonlight“ erinnert. Selbst die Lichtstimmung war dort ungefähr dieselbe. Die Struktur – so erklärt Shults in Interviews selbst immer wieder – hat er aus dem Klassiker „Chungking Express“ von Hong-Kong-Legende Wong Kar-Wai übernommen. (Wong Kar-Wai ist auch eines der großen Vorbilder von Barry Jenkins.) Zu oft wirkt Shults wie ein strebsamer Schüler, der Gelerntes wiedergeben kann, aber am Transfer scheitert.

    Manchmal ist weniger mehr

    Am effektivsten ist der Film interessanterweise immer dann, wenn er sich ein wenig zurücknimmt und seinen Darstellern Raum gibt. Einfache Momente des Beisammenseins, auf simple Weise gefilmt. Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter, in dem die steinerne Patriarchen-Maske bricht und Zweifel und Ängste hervortreten. Der Augenblick, in dem sich zwei, die einander lange fremd waren, endlich verstehen. Vergebung. Simple, nackte Gefühle, die der Regisseur sonst mit tausend Schichten Glanzlack übertüncht. Man kann sie meist nur noch erahnen.

    Fazit: Nicht nur Geschichte und Form von „Waves“ bewegen sich wellenförmig, auch die Qualität des Films steigt und fällt mit jeder Szene. Er gelingt, wo er sich wirklich auf seine Figuren einlässt – und scheitert, wo er einfach nur mit seinem Stil überwältigen will.

     

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