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    Alles außer gewöhnlich
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Alles außer gewöhnlich

    Wichtiges Thema, misslungener Film

    Von Christoph Petersen

    Je dringender ein Mensch mit Autismus Fürsorge benötigt, desto höher ist (zumindest in Frankreich, aber wahrscheinlich auch anderswo) die Chance, dass er am Ende ganz ohne Unterstützung allein in seiner Wohnung hockt. Dieser im ersten Moment paradox klingende Umstand hat damit zu tun, dass Einrichtungen besonders versorgungseffektive Patienten oft ablehnen oder weiterreichen, weil sie nicht das nötige Personal haben oder es sich für sie auch finanziell einfach nicht lohnt. In Frankreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deshalb ein regelrechtes Schattensystem entwickelt, bei dem nicht zertifizierte Einrichtungen sich ausgerechnet um die schwierigsten Fälle kümmern. Die „Ziemlich beste Freunde“-Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano haben mit ihrer auf einer wahren Geschichte basierenden Tragikomödie „Alles außer gewöhnlich“ nun einen Film über diesen unhaltbaren Zustand gedreht, dem man sicherlich hoch anrechnen kann, dass er auf dieses Problem überhaupt hinweist (immerhin lief er als Abschlussfilm beim Filmfestival in Cannes, da ist eine gewisse Aufmerksamkeit garantiert). Und dennoch ist „Alles außer gewöhnlich“ all seiner guten Absichten zum Trotz misslungen.

    Es gibt gefühlt keine Minute, in der das Handy von Bruno (Vincent Cassel) nicht klingelt. Die Kopfhörer nimmt er zwischen den Telefonaten schon gar nicht mehr aus dem Ohr. Aber Bruno leitet eben auch nicht nur eine für diese Aufgabe eigentlich gar nicht zugelassene Non-Profit-Organisation, die aktuell um die 40 Kinder mit schwerem Autismus betreut, er kümmert sich darüber hinaus auch noch selbst um inzwischen erwachsene Ex-Patienten, die ihm besonders am Herzen liegen. Einer seiner besten Freunde ist Malik (seine Auftritte sind das Beste am Film: Reda Kateb), der für eine vergleichbare Einrichtung als verantwortlicher Erzieher arbeitet und sich zugleich auch um die Einarbeitung der jungen (meist ebenfalls noch nicht zertifizierten) neuen Mitarbeiter kümmert. Es vergeht kaum ein Tag ohne eine zumindest mittelschwere Katastrophe, aber zugleich gibt es ja auch eh keine Alternative. Trotzdem hat das zuständige Ministerium eine Kommission ins Leben gerufen, die untersuchen soll, ob man die Einrichtungen von Bruno und seinen Mitstreitern nicht schließen müsste...

    Bruno und Malik zeigen für die von ihnen betreuten Menschen mit Autismus immer 100-prozentigen Einsatz.

    Olivier Nakache und Éric Toledano setzen in „Alles außer gewöhnlich“ häufig auf einen unerwartet dunklen Look, agieren dazu immer wieder mit wackligen Handkamerabildern, die Authentizität suggerieren sollen. Wenn gleich in der ersten Szene eine Teenagerin durch eine Einkaufsstraße flüchtet, bis sie schließlich von einigen sie verfolgenden Männern zu Boden gerissen wird, wähnt man sich schon in einem Polizei-Thriller. In Wahrheit handelt es sich aber um eine junge Frau mit Autismus, die da von Bruno und Malik wieder eingefangen wird. Die Regisseure setzen auch später konsequent auf solche unnötigen Dramatisierungen, etwa wenn ein ausgerissener Junge mit Autismus und Selbstverletzungsdruck über eine starkbefahrene Straße marschiert, während die Autos nur um Haaresbreite an ihm vorbeisausen. Spannung und Drama wird hier konsequent nur mit den simpelsten filmischen Mitteln erzeugt, genau wie der Humor, der hauptsächlich durch eine Reihe von Brunos jüdischen Blind Dates in den Film hineinkommt.

    Dabei hätten sie solche Manipulationen wahrscheinlich überhaupt nicht nötig gehabt, wenn der Zuschauer sich auch so schon ausreichend um die Protagonisten mit Autismus sorgen würde. Aber dazu bekommt man praktisch gar keine Chance. Nur zwei von ihnen lernt man etwas näher kennen, wobei auch dann vor allem ihre Funktion im Film im Vordergrund steht: Der Junge, der ständig mit seinem Kopf gegen die Wand schlägt, ist für die Dramatik zuständig, während der junge Mann, der in der Metro stets die Notbremse zieht, ein wenig Humor beisteuert. Und wenn parallel zu den Schlusstiteln in einer Collage gezeigt wird, welche Fortschritte die Patienten nach dem Ende der eigentlichen Filmhandlung noch gemacht haben, dann wirkt das mit der Musik, den Lense Flares und den Hochglanz-Bildern auch eher wie die Parodie eines Nike-Werbespots. Authentische Emotionen bleiben da auf der Strecke.

    Schmerzlicher Spagat

    Selbst wenn man akzeptiert, dass die Kinder mit Autismus in diesem Film nur eine dramaturgische Funktion erfüllen, weil es nun mal vornehmlich um die Arbeit von Bruno (und mit Abstrichen Malik) geht, kann „Alles außer gewöhnlich“ nicht überzeugen. Nakache und Toledano wollen nämlich schlicht zwei Dinge auf einmal, die sich nur leider praktisch kaum miteinander vereinbaren lassen: Sie wollen zeigen, dass die aktuelle Situation unhaltbar ist und dass sich unbedingt möglichst schnell etwas ändern muss. Und sie wollen dem realen Bruno, der im wahren Leben übrigens Stephane Benhamou heißt, zugleich ein (wohlverdientes) filmisches Denkmal setzen. Aber das beißt sich in vielen Momenten nun mal.

    Vincent Cassel („Dobermann“) strahlt als Bruno eine scheinbar endlose Geduld und Güte aus – sein Humanismus ist regelrecht ansteckend. Aber wenn man einmal ganz nüchtern betrachtet, was im Film passiert, muss man dennoch festhalten, dass er einfach nicht gut ist in seinem Job – im Umgang mit den Menschen natürlich, aber er kann nicht Delegieren, nicht Organisieren, sein ständiges Mantra, dass schon alles irgendwie gutwerden wird, klingt irgendwann nur noch hohl. Als ein Junge ausreißt, kann nicht einmal die Polizei gerufen werden, weil diese den Laden sonst womöglich dichtmachen würde. Die Regisseure zeigen diese Situationen der absoluten Überforderungen zwar auf der Plotebene, aber sie scheinen sie sich im selben Moment emotional und inszenatorisch nicht eingestehen zu wollen. Dieser versuchte, aber nicht gelungene Spagat führt irgendwann zu einer merkwürdigen Dissonanz, die den – abseits seiner realen Thematik – sowieso weder besonders berührenden noch sonderlich lustigen Film schließlich vollends aus der Bahn wirft.

    Fazit: Olivier Nakache und Éric Toledano haben tatsächlich ein wirklich drängendes Problem identifiziert – nur mit „Alles außer gewöhnlich“ dann leider einen ziemlich misslungenen Film darüber gedreht.

    PS: Um nicht zu spoilern, verraten wir an dieser Stelle nicht, was bei dem 2017 veröffentlichten Bericht des Ministeriums zur Situation schlussendlich herausgekommen ist. Aber Interessierte können ihn natürlich einfach googeln.

    Wir haben „Alles außer gewöhnlich“ auf dem Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Abschlussfilm gezeigt wurde.

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