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    Ema
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ema

    Pedro Almodóvar nach dem Beat des Reggaeton

    Von Christoph Petersen

    Wenn die platinblonde Titelheldin in einer Szene von „Ema“ voller Stolz und Selbstverständnis rekapituliert, wie sie dafür gesorgt hat, dass alle im Raum jetzt eine große glückliche Familie sind, dann kann man das als ein modernes, die gesellschaftlichen Konventionen sprengendes Märchen verstehen. Oder auch als eine der abgefucktesten Familiengeschichten, die jemals im Kino erzählt wurden. Aber was erwartet man auch von einem Film, in dessen erster Szene eine junge Frau mit Schweißermaske und Flammenwerfer durch Santiago zieht und Ampeln abfackelt.

    Ein wenig erinnert „Ema“ schlussendlich an die Melodramen von Pedro Almodovar – immer extrem, immer überdreht, aber auch voller Zärtlichkeit und Melancholie. Die getanzte südamerikanische Antwort auf Filme wie „Live Flesh“ oder „Julieta“. Doch auch damit kommt man dem neuen Film des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín, der sich bei seinem 2016er Biopic-Doppel „Jackie“ und „Neruda“ zuletzt von einer etwas gesitteteren Seite gezeigt hat, sich aber diesmal wieder so richtig kreativ austobt, noch nicht wirklich näher. Schließlich gibt es da ja auch noch den Reggaeton!

    Ema und Gastón lieben und streiten sich.

    Die Tänzerin Ema (Mariana Di Girolamo) ist mit ihrem zwölf Jahre älteren, womöglich schwulen Choreografen Gastón (Gael García Bernal) verheiratet. Gemeinsam haben sie vor einiger Zeit einen kolumbianischen Jungen adoptiert, der sich jedoch als unerwartet schwierig herausgestellt und Emas nun entstellter Schwester das halbe Gesicht verbrannt hat. So hat ihn das Paar nach fast einem Jahr letztendlich doch wieder an das Jugendamt zurückgegeben. Die Ehe, Emas Tagesjob als Lehrerin, die Tanzgruppe - alles droht an dieser Entscheidung zu zerbrechen. Aber Ema hat offenbar einen Plan, um es wiedergutzumachen - nur nimmt der zunehmend immer groteskere Züge an...

    Wenn sich Ema und ihr Mann in einigen frühen Szenen die übelsten Beleidigungen an den Kopf werfen und sich gegenseitig die Schuld an der Situation in die Schuhe schieben, dann kann man sich bei dem Spiel von Mariana Di Girolamo und Gael García Bernal nie ganz sicher sein, ob das jetzt brutaler Ernst der alles augenzwinkernd gemeint ist. Und das trifft auch auf „Ema“ als Ganzes zu – so richtig legt Pablo Larraín seine Karten eigentlich erst in den letzten paar Einstellungen auf den Tisch, davor muss man als Zuschauer ständig auf der Hut sein.

    Ist „Ema“ nun ein schonungsloses Drama? Das würde zumindest das Thema nahelegen, ist ja schon ziemlich harter Tobak, so ein zurückgegebenes Adoptivkind. Oder nicht doch eher eine überhöhte Farce à la „Trainspotting“, bei der nicht Heroin, sondern Tanz die Droge der Wahl ist? Das würde zumindest den Flammenwerfer erklären. Und dann ist da ja noch das immer sonderbarere Züge annehmende Vorstellungsgespräch mit einer Schuldirektorin, die nicht nur gegen Disziplin ist, sondern sich auch direkt selbst als bipolar outet. Ist „Ema“ etwa eine absurde Groteske? Oder handelt es sich nicht sowieso im Kern viel eher um ein Musical, bei dem sich die dramatischen Szenen dem Ruckhaften und Unvorhersehbaren moderner Tanzperformances anpassen? Aber was immer es auch ist, faszinierend ist es von der ersten bis zur letzten Sekunde.

    Orgien und Walgesänge

    Der Score des chilenisch-amerikanischen Musikers Nicolas Jaar („Dheepan“), der unter anderem äthiopischen Jazz zu seinen Einflüssen zählt, reicht von sphärischen Techno-Klängen bis zu einem scheppernden, mit Walgesang unterlegten Klirren, das zugleich etwas verschoben Märchenhaftes und etwas verstörend Unheilvolles an sich hat. Diese musikalische Untermalung ist noch ein weiteres großes Faszinosum, das „Ema“ nur noch sehenswerter macht, aber zugleich eben auch keine große Hilfe dabei ist, das filmische Mysterium zu lüften.

    Zumal sich der Ton des Films sowieso noch mal merklich ändert, sobald Ema und einige ihrer Freundinnen aus der Tanzkompanie austreten und stattdessen zum Reggaeton (eine vor allem auf der Straße performte Mischung aus Reggae, Hip-Hop und Merengue) überwechseln. Kein Wunder, schließlich ist diese Musikrichtung wie ein getanzter Orgasmus, eine animalische Orgie, bei der immer alle geil sind, die Zuschauer und die Tänzer. Larraín platziert dann kurt hintereinander drei videoclipartige Collagen - von den Tänzerinnen, von einer Orgie und von Dingen, die Ema mit ihrem Flammenwerfer („wie das feurige Sperma eines Elefanten“) in Brand gesteckt hat.

    Man wird aus vielem nicht (sofort) schlau, aber es sieht zumindest immer ganz hervorragend aus. Larraíns Stammkameramann Sergio Armstrong („Nasty Baby“) gießt nicht nur die schmelzende Ampel zu Beginn, sondern etwa auch eine Tanzperformance vor einer Videoleinwand mit einem riesigen brennenden Planeten in unvergessliche Bilder. Weil die letzten zehn Minuten, die sehr viel deutlicher einem bestimmten Genre zuzuordnen sind, zugleich auch zu den besten des Films zählen, darf man sich anschließend schon die Frage stellen, ob „Ema“ nicht genauso gut oder gar besser gewesen wäre, wenn Larrain zuvor weniger abstrakt an die Sache herangegangen wäre. Aber zugleich ist das auch eine ziemlich müßige Überlegung, denn über die Maßen faszinierend ist er ja auch so geraten.

    Fazit: Ein grandios gefilmtes, aber absolut abgefucktes Melodram auf den Spuren von Pedro Almodovar an seinem kranksten Tag, gewürzt mit einem orgiastischen Reggaeton-Musical und einer (un-)gesunden Portion rebellischem Wahnsinn.

    Wir haben „Ema“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo er im Wettbewerb gezeigt wurde.

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