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    Martin Eden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Martin Eden

    Jack London in Italien

    Von Karin Jirsak

    Im Jahr 1909 veröffentlichte der vor allem für seine Abenteuerromane bekannte amerikanische Autor Jack London („Der Seewolf“, „Wolfsblut“) seinen Schlüsselroman „Martin Eden“. Darin erzählt der ehemalige Austernräuber und Goldsucher von seinem wohl persönlichsten Abenteuer: dem entbehrungsreichen Weg vom mittellosen Proletarierkind zu einem der berühmtesten und erfolgreichsten Schriftsteller der Weltliteratur. Mehrfach wurde dieses Werk verfilmt; an der ersten Stummfilmadaption von 1914 wirkte London zwei Jahre vor seinem bis heute ungeklärten Tod sogar noch selbst mit.

    105 Jahre später nimmt sich nun Pietro Marcello („Bella e Perduta – Eine Reise durch Italien“) des stark autobiografisch gefärbten Stoffes an und wagt für sein auch mit deutschen Geldern finanziertes Drama den zunächst verwunderlichen Schritt, diesen nach Italien zu verlegen. Das klingt erst mal irritierender, als es am Ende ist – zumal Marcello dem zeitlichen Setting der Geschichte treu bleibt und seinen Martin Eden zugleich als Raum und Zeit enthobene, tragische Universalfigur des Strebens nach Status und Anerkennung stilisiert.

    Klassenkämpfer und Schriftsteller: Martin Eden.

    Am Hafen kommt der Seemann Martin Eden (Luca Marinelli) dem jungen Arturo (Giustiniano Alpi) bei einer Auseinandersetzung zur Hilfe. Zum Dank wird er in das Haus von dessen wohlhabender Familie eingeladen. Dort trifft er auf Arturos Schwester Elena (Jessica Cressy) und ist sofort nicht nur von ihrer Anmut, sondern auch von ihrer Bildung fasziniert. Damit er um Elenas Hand anhalten kann, muss sich Eden zuerst einen sozialen Status erarbeiten und entscheidet sich für eine Karriere als Schriftsteller. Doch der Weg zum Erfolg fordert Opfer, und Edens Hinwendung zum Sozialismus macht es nicht einfacher, die Beziehung mit der bourgeoisen Elena aufrechtzuerhalten.

    Dass Pietro Marcello, der auch das Drehbuch schrieb, den Künstlerroman aus Jack Londons kalifornischer Heimat Oakland ins italienische Neapel verlegt, mag zwar anfangs befremdlich erscheinen, der Glaubwürdigkeit der Erzählung schadet es allerdings nicht: Die industrielle Klassengesellschaft als solche ist schließlich (auch) ein ureuropäisches Phänomen, und eine Geschichte wie die von Martin Eden kann sich im Prinzip in jedem durch Klassenzugehörigkeit definierten System ereignen.

    Beeindruckende Optik

    Zeitlich siedelt Marcello seine Adaption im frühen 20. Jahrhundert an, in dem auch Londons Roman spielt, und erschafft mit körnigen, eindrucksvoll kolorierten 16mm-Aufnahmen eine authentisch wirkende Atmosphäre dieser Zeit. Kunstvoll durchbrochen wird die visuelle Homogenität hier und da von assoziativ montierten Archivaufnahmen, die sich zeitlich nicht immer klar in der Vergangenheit einordnen lassen. Sie weisen auf die Zeitlosigkeit einer Figur wie Martin Eden hin, die sich im Kampf der Ideologien in keine Schublade stecken lässt und schließlich tragisch an ihrem kompromisslosen Verständnis von Individualismus scheitert.

    „Eins meiner Motive in diesem Buch war ein Angriff auf den Individualismus (in der Person des Helden)“, schrieb Jack London in einer Notiz an seinen Schriftsteller-Kollegen Upton Sinclair über die Figur Martin Eden. „Ich muss es vermasselt haben, denn kein einziger Kritiker hat es erkannt.“ Ähnliche Erkenntnisschwierigkeiten werden nun sicher viele Kinozuschauer haben, denn Edens politische Entwicklung im Konflikt zwischen Sozialismus und Individualismus wird in Pietro Marcellos Film nur fragmentarisch erzählt und so eigentlich nur tiefer gehend verständlich, wenn man mit Londons politischen Essays vertraut ist.

    Martin hinterlässt Eindruck.

    Deutlich greifbar wird dagegen das verzweifelte Ringen um den sozialen Aufstieg, welches Londons älteres Alter Ego hier als mentale und körperliche Tour de Force vollführt. Das Einfühlen in den Protagonisten gelingt nicht zuletzt dank der intensiven Performance von Hauptdarsteller Luca Marinelli („Die Einsamkeit der Primzahlen“), der dafür bei den Filmfestspielen in Venedig sogar mit der Coppa Volpi als bester Hauptdarsteller prämiert wurde. Mit eindrucksvoller physischer Präsenz changiert er zwischen schäumender Willenskraft und fragiler Sensibilität. Den weit gereisten, aber kulturell ungeschliffenen Seemann kauft man Marinelli dabei ebenso ab wie den werdenden Schriftsteller, der sich als unermüdlicher Autodidakt die notwendige Bildung aneignet, um sein (vermeintliches) Lebensziel zu erreichen.

    Der mühevolle Aufstieg vom proletarischen Underdog zum gefeierten Schriftsteller wird detailliert und anschaulich herausgearbeitet, Edens tiefer Fall demgegenüber aber nur bruchstückhaft skizziert. Dadurch verliert der Film als Adaption des Romans, dem es im Kern um diese Wandlung vom Strebenden zum Resignierten geht, ein Stück weit an inhaltlicher Tiefe. Edens Wut und Enttäuschung über den blinden Opportunismus der Bourgeoisie, in die er sich auch unter Einsatz seiner Gesundheit mühevoll emporgearbeitet hat, werden als solche zwar offensichtlich, über den Entwicklungsprozess dieser Gefühle erfahren wir allerdings wenig. Gerade dafür hätte sich Pietro Marcello bei einer Gesamtlaufzeit von über zwei Stunden aber etwas mehr Zeit nehmen müssen.

    Fazit: In körnigen 16mm-Aufnahmen kreiert Pietro Marcello ein ausdrucksstarkes Bild der europäischen Klassengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts und stellt ihr mit seinem Martin Eden einen zeitlosen Antihelden gegenüber, dessen Scheitern an den eigenen Idealen aber präziser hätte herausgearbeitet werden können.

    Wir haben „Martin Eden“ auf dem Filmfest Hamburg 2019 gesehen.

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