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    Enfant Terrible
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Enfant Terrible

    Ein Bierbauch für die Ewigkeit

    Von Christoph Petersen

    Nach der Corona-bedingten Absage der Filmfestspiele von Cannes, in dessen Programmauswahl er es bereits geschafft hatte, feierte „Enfant Terrible“, ein Film über den legendären deutschen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder („Angst essen Seele auf“), seine Weltpremiere als Eröffnungsfilm beim Filmfest Hamburg – und dort stieg der Regisseur Oskar Roehler („Herrliche Zeiten“) nach der Vorführung auf die Bühne, um erst mal so richtig vom Leder zu ziehen.

    Aber nachdem er die ganze deutsche Filmindustrie, deren einziges Ziel es sei, Regisseuren ihre Handschrift auszutreiben, in Grund und Boden verdammt hatte, nahm er die beiden Produzenten, die da neben ihm auf der Bühne standen und die nur wenige Minuten zuvor selbst ganz brav den beteiligten Fernsehsendern und Filmförderern gedankt hatten, doch gleich wieder aus seiner Universalabrechnung aus. Schon irgendwie radikal – aber doch auch mit Netz und doppeltem Boden.

    An diesem Bierbauch kommt niemand vorbei: Oliver Masucci als Rainer Werner Fassbinder.

    In diesem Moment wirkte Oskar Roehler in seiner Rainer-Werner-Fassbinder-Gedächtnislederjacke wie ein Enfant Terrible light – wobei er eben selbst mit dieser Bezeichnung noch immer zu den aufregendsten Provokateuren zählt, die wir im deutschen Kino aktuell noch haben. So hat sich der 61-Jährige etwa geweigert, den Film mit Schauspielern im Alter der porträtierten Figuren zu drehen: Rainer Werner Fassbinder ist 1982 bereits mit 36 Jahren an einer Überdosis gestorben – aber Oskar Roehler arbeitet halt lieber mit Schauspielern in seinem Alter, mit denen er „nach Drehschluss noch etwas Saufen“ gehen kann.

    Also ging die Hauptrolle an den brillanten Oliver Masucci (51) und seinen offenbar extra für den Film angetrunkenen, nicht minder brillanten Bierbauch. Den reckt der „Er ist wieder da“-Star im Verlauf der 134 Minuten immer wieder so stolz in die Kamera, wie wohl noch nie ein Bierbauch in der Geschichte des Kinos in die Kamera gereckt wurde. Als Konsequenz aus Roehlers Weigerung blieben von den zunächst angepeilten 7,5 Millionen Euro Budget nur noch 2,5 Millionen übrig – und der Film, der etliche Episoden über einen Zeitraum von 1969 bis 1982 erzählt, musste in nur 25 Tagen abdreht werden.

    Zwischen Abrechnung und Anbetung

    Das kann man so wohl überhaupt nur bewerkstelligen, wenn man zumindest einen Funken von dem Wahnsinn mitbringt, der einst auch Rainer Werner Fassbinder dazu angetrieben hat, in kaum mehr als einem Dutzend Jahren mehr als 40 Spielfilme zu drehen (TV-Serien, Hörspiele und mehr als 20 Theaterstücke kommen da noch obendrauf). Oskar Roehler zeigt Rainer Werner Fassbinder als dauersaufenden und dauerkoksenden Set-Sadisten, der seine Schauspieler schlägt, erniedrigt und ausnutzt, sie notfalls auch an ein Motorrad gefesselt von Désirée Nick durch den heißen Wüstensand ziehen lässt, wenn ihr „gespieltes“ Schmerzensgesicht ihn nicht überzeugt …

    Nimmt man nur das, was da auf der Leinwand passiert, dann könnte man fast glauben, der Film sei eine Entlarvung oder gar eine Abrechnung – und so ein Film würde ja auch perfekt zum Zeitgeist passen, selbst wenn er wohl ziemlich langweilig ausfallen würde. Aber das Spannende an „Enfant Terrible“ ist zuallererst dieser Widerspruch, dass Oskar Roehler, der in jedem Interview betont, dass er auf die politische Korrektheit pfeift (und es dann in seinen Filmen manchmal auch tut), seinem Protagonisten trotz allem mit einer gewaltigen Empathie begegnet.

    Ist das nun Bewunderung, Mitleid, Verständnis – oder vielleicht gar das (nicht so heimliche) Verlangen, selbst mehr so sein zu wollen wie der schaffensgetriebene Rainer Werner Fassbinder, der mit seinen Schauspielern definitiv mehr getan hat, als nur nach Drehschluss noch zusammen zu saufen? Am Ende ist das eigentlich herzlich egal, denn das Ergebnis ist eine Ambivalenz, die fasziniert, abstößt und immer wieder auch tief berührt.

    Mit Hanna Schygulla (Frida-Lovisa Hamann) und Ulli Lommel (Lucas Gregorowicz): Rainer Werner Fassbinder dreht seinen ersten Spielfilm "Liebe ist kälter als der Tod", der 1969 bei der Berlinale ausgebuht wird.

    Das alles geschieht in theaterhaften Kulissen, in denen die Türen oft einfach nur an die Wand gemalt sind. Hinzu kommt eine schlaglichtartige Dramaturgie, die den unvorbereiteten Zuschauer regelrecht überrollt und bei der man schon selbst höllisch aufpassen muss, um Freddie Mercury nicht zu verpassen, der da plötzlich auf dem Kommunen-Sofa hockt.

    Manchmal steht da zumindest noch ein aktueller Filmtitel mit Graffiti an der Wand – aber wer sich mit Rainer Werner Fassbinder und seinem Werk nicht bereits sehr gut auskennt, der wird bis zum Ende nicht wissen, wer eigentlich die ganzen Leute sind, die nahezu alle von bekannten deutschen Schauspielern (u.a. Katja Riemann, Götz Otto, Eva Mattes) verkörpert, aber meist nur mit ihrem Vornamen genannt werden.

    „Enfant Terrible“ ist aber nicht nur in dieser Hinsicht ein kompromissloses Werk – und eben keines dieser typischen Biopics, die als eine Art bebilderter Wikipedia-Artikel fungieren. Stattdessen erweist sich der Film als mal groteskes, oft saukomisches, mitunter abstoßendes Künstler-Melodram irgendwo zwischen Kunst und Trash, zwischen Theater und Kino, zwischen Auf-ein-Podest-Heben und Vom-Sockel-Stoßen. Rainer Werner Fassbinder selbst hätte das vermutlich gar nicht mal so schlecht gefallen…

    Fazit: Kinogott sei Dank, dass dieser Film kein herkömmliches Künstler-Biopic geworden ist! Stattdessen werden sich die Geister an „Enfant Terrible“ genauso scheiden wie an Rainer Werner Fassbinder (und inzwischen wohl auch Oskar Roehler) selbst.

    Wir haben „Enfant Terrible“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.

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