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    Milla Meets Moses
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Milla Meets Moses

    Krebsfilm mal anders

    Von Christoph Petersen

    Die Mutter wirft sich die Pillen ein wie Bonbons, weil sie eh ständig vergisst, was sie heute schon alles genommen hat. Der Psychiater-Vater spritzt sich das Morphium seiner Patienten auch schon mal selbst in den Arm und knutscht zudem mit der hochschwangeren Nachbarin herum. Die rebellierende Tochter bezahlt einen Drogenabhängigen, den sie am Bahnhof kennengelernt hat, um ihre Eltern beim Abendessen zu schockieren. Nach den ersten zehn Minuten von „Milla Meets Moses“, dem Kinodebüt von TV-Regisseurin Shannon Murphy, könnte man sich auch sehr gut „Australian Beauty“ als einen passenden Titel vorstellen. Schließlich ist diese Familie den Burnhams aus Sam Mendes‘ Hinter-dem-Weißen-Gartenzaun-Satire „American Beauty“ nicht unähnlich.

    Aber in „Milla Meets Moses“ geht es nicht darum, das Abgründige und Verrottete hinter dem vermeintlich Perfekten freizulegen. Hier gibt es keinen galligen Spott, das genaue Gegenteil ist der Fall: Murphy begibt sich gemeinsam mit ihrem herausragenden Cast auf die Suche nach dem Zärtlichen und Schönen gerade im Dysfunktionalen. So gelingt ihr ein wirklich zu Herzen gehendes Coming-Of-Age-Drama mit der womöglich besten Performance des ja ohnehin schwer angesagten Charakterkopfs („Killing Them Softly“, „The Place Beyond The Pines“) und Teilzeit-Blockbuster-Stars („Rogue One“, „Captain Marvel“) Ben Mendelsohn als Vater, der für seine todkranke Tochter alles zu tun bereit ist.

    Ben Mendelsohn vielleicht so gut wie noch nie.

    Zunächst will die schwer krebskranke Milla (Eliza Scanlen) eigentlich nur ihre Eltern schocken, als sie den klauenden, stehlenden und trotz Vokuhila-Frisur ziemlich heiß aussehenden Moses (Toby Wallace), der ihr am Bahnhof bei einem Schwächeanfall zu Hilfe gekommen ist, zum Abendessen mit nach Hause bringt. Aber dann verliebt sie sich in den deutlich älteren, offensichtlich drogenabhängigen Schulabbrecher. Selbst als Moses wiederholt in ihr Haus einbricht, um Medikamente zu stehlen, reagieren Psychiater Henry (Ben Mendelsohn) und seine Frau Anna (Essie Davis) erstaunlich cool. Schließlich bietet Henry dem jungen Mann sogar an, bei ihnen zu wohnen und ihn mit Stoff zu versorgen, solange er sich nur um seine Tochter kümmert. Aber wie kann sich Milla sicher sein, ob Moses sie wirklich mag oder ob er nur hinter den Rezepten ihres Vaters her ist?

    Doch kein "Australian Beauty"

    In Anbetracht der (schwarz-)humorigen Einführung der Familie und den mild-ironischen Kapiteltiteln wirkt „Milla Meets Moses“ zunächst wie ein weiterer „American Beauty“-Klon. Das ist schon sehr lustig, vor allem wenn beim Familienabendessen der von der Tochter angeschleppte Junkie längst nicht der „Vollgedröhnteste“ am Tisch ist. Zugleich ist es aber auch ein wenig enttäuschend, schließlich haben wir solche Filme in den vergangenen 20 Jahren wirklich zuhauf gesehen. Doch dann will Anna ihre Tochter vom Geigenunterricht abholen. Nur spielt Milla nicht die Geige, sondern tanzt tief in sich versunken zu einer alten Platte ihres Lehrers. In diesem Moment liegt so viel Glück, Trauer und Tragik im Blick der Mutter, dass es einem nicht nur das erste Mal das Herz zerreißt (was sich auch oft noch wiederholen wird), es wird auch augenblicklich klar, dass es sich bei dieser Familie eben doch nicht um Karikaturen handelt, sondern noch so viel mehr dahintersteckt.

    Milla blüht in Anwesenheit von Moses auf.

    Milla weist ihre Eltern immer wieder zurecht, indem sie die Argumente ihres liberalen Vaters gegen ihn verwendet. Eliza Scanlen (bekannt aus der HBO-Serie „Sharp Objects“ mit Amy Adams) spielt ihre Rolle aber trotzdem nicht als altersweisen Teenager à la Ellen Page in „Juno“, sondern mit einem gewinnenden Mix aus pubertärer Bockigkeit und einer immer ganz kurz dahinter lauernden Zerbrechlichkeit. MVP bleibt aber dennoch Ben Mendelsohn, der die Krankheit seiner Tochter mit dem größtmöglichen Pragmatismus anzugehen scheint, dahinter aber doch nur seine eigene Machtlosigkeit verbirgt. Selbst in den Momenten, wo diese dann doch mal hervorbricht, dreht Mendelsohn nicht einfach volle Kanne auf – sondern bewahrt sich auch hier eine Subtilität, die seine Performance nur noch einnehmender macht. Henry knutscht fremd und spritzt sich Morphium – und trotzdem ist er wohl der beste Vater, den man sich nur wünschen kann.

    (K)Ein typischer Tränenzieher

    Nicht ganz so subtil sind hingegen einige der Metaphern – etwa um den titelgebenden Milchzahn (im Original heißt der Film „Babyteeth“), den Milla trotz ihres Alters noch im Mund hat und den sie an einem zentralen Moment des Films als Zeichen ihres Erwachsenwerdens verlieren wird. Eine weitere Schwachstelle ist die Rolle von Moses. Zwar bekommt er zwei, drei Szenen mit seinem kleinen Bruder, den er eigentlich nicht mehr sehen darf, aber zu oft wirkt es so, als würde Drehbuchautorin Rita Kalnejais seine Drogenerkrankung auch dazu nutzen, um ihn gerade so auftreten zu lassen, wie sie es an der Stelle für die Story braucht – wer Drogen nimmt, benimmt sich eben auch schon mal irrational. Und trotzdem: Am Ende kriegt „Milla Meets Moses“ den Zuschauer – und aufgrund seiner ungewöhnlichen Figuren hat man auch weit weniger als bei anderen Krebsfilmen das Gefühl, manipuliert zu werden, wenn man dann am Schluss eigentlich gar nicht mehr anders kann, als die eine oder andere Träne zu verdrücken.

    Fazit: Eine berührende Coming-of-Age-Geschichte über eine Familie, die mit der Krebserkrankung der Tochter auf sehr ungewöhnliche Weise umgeht.

    Wir haben „Milla Meets Moses“ auf beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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