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    Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
    Von Ulrich Behrens

    „Dreckloch, verdammtes!”, schreit Martha (Elizabeth Taylor), als sie und ihr Mann George (Richard Burton) von einer Party bei Marthas Vater zurück nach Hause kommen. Sie meint die Wohnung, die Unordnung dort, aber vor allem meint sie wohl die Wohnung als Ausdruck ihrer Beziehung zu ihrem Mann. George ist Professor für Geschichte am College, das Marthas Vater leitet.

    Mike Nichols – bekannt durch Filme wie Die Reifeprüfung (1967), Mit aller Macht (1998) oder Hautnah (2004) – entfesselte in seinem Kinodebüt – basierend auf Edward Albees erfolgreichem Theaterstück gleichen Namens – ein Feuerwerk der Verletzungen, Erniedrigungen, einen Ehekrieg, wie man ihn bis dahin wohl nicht im Kino gesehen hatte. Aber „Wer hat Angst vor Virginia Woolf” ist nicht nur ein Ehedrama im Stile von Der Rosenkrieg (1989). Man munkelte gar, der Film spiegele einen Teil der Ehe des Paares Burton/Taylor wider. Doch solche Spekulationen erzählen wenig über das Stück, dass Albee sicherlich nicht auf Basis der Ehe des Schauspielerpaares geschrieben hatte.

    Ein Theaterstück, noch dazu ein schwer „dialoglastiges”, ins Kino zu bringen, ist für manchen Kinogänger eher eine mühevolle Aufgabe. Das Kino soll doch vor allem durch Bilder, nicht durch Worte wirken. Und tatsächlich spielt der größte Teil des Films im Haus des Paares George und Martha, ein kürzerer Teil in einem Restaurant. Tatsächlich sind die Dialoge ausgreifender als in einem durchschnittlichen Film. Und doch: Gerade das Spiel der beiden Hauptdarsteller Burton/Taylor macht diesen Film dann eben doch zu einem visuellen Erlebnis sondergleichen: ein Vierpersonenstück, das dem Zuschauer einiges an Konzentration abverlangt – und einiges zumutet.

    Kaum haben Martha und George ihr Haus betreten, eröffnet sie ihm, dass noch Gäste kommen. George ist wenig erfreut. Martha ist betrunken, er müde, beide streiten. Doch kurze Zeit später stehen der Biologielehrer Nick (George Segal) und seine Frau Honey (Sandy Dennis) bereits vor der Tür. Auch sie waren auf der Party bei Marthas Vater. Und kaum haben sie die Wohnung betreten, werden sie schon in den Ehestreit der beiden „einbezogen”, sprich: instrumentalisiert. Während Martha Honey, als sie ihr das Haus zeigt, von dem gemeinsamen 16-jährigen Sohn erzählt, der nur zu Feiertagen die Eltern besuche – ein Thema, das George mit anderen nicht diskutieren will –, stellt George seine Frau Nick gegenüber als versoffene, unzurechnungsfähige Zynikerin dar.

    Wieder zu viert, erniedrigt Martha ihren Mann vor ihren Gästen als Versager und Feigling. Er habe einen furchtbar lächerlichen Roman geschrieben, der bei ihrem Vater „durchgefallen” sei. Er habe es nicht weiter gebracht als zum „einfachen” Geschichtsprofessor – und so weiter. Während George diese Erniedrigungen anfangs mehr oder weniger hinnimmt, rächt er sich später, indem er ein Geheimnis, das ihm Nick anvertraut hat, vor allen preisgibt: Nick erzählte ihm, Honey habe eine Scheinschwangerschaft gehabt, kurz bevor er sie geheiratet habe. Er deutet unumwunden an, diese habe wohl nur dazu gedient, dass er Honey heiraten solle. Kurz nach der Hochzeit sei ihr Bauch wieder „abgeschwollen”. George inszeniert diese Geschichte wie eine Art Theaterstück vor den drei anderen und erniedrigt damit nicht nur seine Gäste – sondern vor allem Martha. Denn der gemeinsame Sohn der beiden ist nichts weiter als eine ideell geschaffene Gemeinsamkeit der beiden: eine Erfindung, mit der sie seit etlichen Jahren leben. Beide sind unfruchtbar und konnten keine Kinder bekommen.

    Der Streit eskaliert, als Martha – aus reiner Provokation George gegenüber – sich mit Nick ins Schlafzimmer „zurückzieht”, und George daraufhin von einem (erfundenen) Telegramm erzählt, in dem angeblich der Unfalltod des gemeinsamen Sohnes mitgeteilt worden wäre...

    Immer deutlicher wird im Laufe der Handlung, was über einen „normalen” Ehekrieg à la „Der Rosenkrieg” hinausgeht. Die tief sitzenden Konflikte zwischen Martha und George werden in dieser einen Nacht über die Anfeindungen, Erniedrigungen, den Zynismus und die Aggression der beiden, die ihre Gäste nicht nur dafür instrumentalisieren, sondern selbst davor nicht halt machen, auch Nick und die zunehmend betrunkene Honey zu erniedrigen, immer deutlicher enthüllt. Wir treffen auf eine Martha, die von ihrer fixen Idee einer „steilen Karriere” ihres Mannes nie abgelassen hat, die ihn immer wieder vergeblich anzustacheln versuchte, auf der Karriereleiter immer weiter aufzusteigen – ein Ansinnen, das durch einen nicht näher bezeichneten, aber doch spürbaren Konflikt mit ihrem Vater, dem Leiter des Colleges, mit verursacht sein muss. Schon lange aber hat sie es aufgegeben, George anzutreiben. Längst sind bewusste Erniedrigung und Demütigung an die Stelle des Ehrgeizes getreten – und der Alkohol.

    George hingegen, der sich nie antreiben ließ, George der „Schlappschwanz”, der einen Roman schrieb, in dem er von der angeblichen Ermordung der eigenen Eltern erzählte, ertrug diese Erniedrigungen und Anfeindungen seiner Frau nur dadurch, dass er Martha als psychopathisches, alkoholabhängiges Monster darzustellen versuchte – mit allem Zynismus, den er sich im Laufe der Zeit zugelegt hatte.

    Beiden ist jedes Mittel recht, um diesen Krieg gegeneinander zu führen. Nur über einen von beiden erfundenen gemeinsamen Sohn – und selbst über dessen Augenfarbe streiten sich die beiden – konstruieren Martha und George über Jahre etwas Gemeinsames, sozusagen einen Haltepunkt in beider Leben, der es andererseits aber auch nur möglich machte, ihren Krieg weiterzuführen.

    Warum keine Trennung? Weil beide aus ihrem eigenen Inneren diesen Krieg brauchen wie andere die Liebe brauchen, um zusammenzuleben. Kaum ein anderer Roman und kaum ein anderer Film verdeutlichen – in Worten und Bildern – diese Zwanghaftigkeit einer Beziehung zweier Menschen, die nie erwachsen geworden, sondern in den kindlichen respektive jugendlichen Konflikten ihrer Vergangenheit verhaftet geblieben sind. Alles in ihrem Leben dreht sich um nichts anderes als enttäuschte Erwartungen, Sehnsüchte, unverarbeitete Konflikte. Der Krieg wird hier zum unausweichlichen Mittel zum Zweck. Die Waffen sind Zynismus und Erniedrigung, Beleidigung und Aggression, Demütigung und seelische Grausamkeit.

    Der ganze Pessimismus des Stücks von Albee scheint am Schluss umso deutlicher wider. Nichols hat mit Burton und Taylor ein glänzend aufspielendes Paar in dieser Hinsicht gewählt. Besonders Elizabeth Taylor spielt diese Martha mit ihrer vulgären Sprache, ihren wüsten Aggressionen und ihrer Fähigkeit zur Erniedrigung exzellent.

    Die Kamera Haskell Wexlers tut das, was sie tun muss: Sie „porträtiert” die beiden Protagonisten in ihrer ganzen Zwanghaftigkeit, in ihrer daraus resultierenden „Kriegslüsternheit” unnachahmlich. Wie ein Drehbuch entrollt sich der Schlachtplan beider vor unseren Augen. Ein Kriegsfilm – könnte man fast sagen. Umso deutlicher enthüllt sich aber auch das Gefängnis, in dem Martha und George sich selbst eingesperrt haben. Kein Befreiungsversuch ist hier sichtbar, die Schläge, die ausgetauscht werden, richten sich nicht etwa gegen die eigene Unterdrückung oder die des anderen; sie haben den einzigen Zweck, diese Unterdrückung noch zu verstärken, die Abhängigkeit zu zementieren – begleitet vom Konsum einer Unmenge von harten alkoholischen Getränken. So ist auch kaum zu erwarten, dass dieser Krieg den Zweck hat, den anderen physisch zu töten. Nein, der Tod des jeweils anderen würde den Krieg beenden und einem von beiden den Kriegsgegner nehmen. Beide wollen diesen Krieg auf ewig fortführen, weil sie ohne ihn nicht leben können.

    Summa summarum auch heute noch ein sehr sehenswertes Stück, dessen Thema sich mit den Jahren sicherlich nicht erledigt hat. Nicht umsonst kassierte der Film immerhin fünf Oscars und weitere 18 Nominierungen.

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