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    Die Grauzone
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Grauzone
    Von Robert Cherkowski

    Bevor Steven Spielberg mit „Schindlers Liste" seinen großen Wurf landete und vom Leben, Leiden, Sterben und Überleben in Zeiten des Holocausts berichtete, gab es nur wenige Spielfilme, die versuchten, ein naturalistisches Bild von der Judenverfolgung und Vernichtung zu zeichnen. Sicher, es gab Dokumentationen wie Claude Lanzmans „Shoah" und engagierte Spielfilme wie Robert M. Youngs „Triumph des Geistes", doch glaubte selbst der große Stanley Kubrick nicht daran, dass sich das Gefühl existenziellen Grauens einer kaltschnäuzigen Mordindustrie wirklich adäquat auf die Leinwand bannen ließe. Dennoch: Es gab auch Filme, die sich dem Schrecken nähern wollten, und dies nicht über die üblichen Bilder von entzweiten Familien, Tränenströmen, Hoffnung und Überleben. Tim Blake Nelsons hoffnungsloses KZ-Drama „Die Grauzone" ist einer der mutigsten, wenn auch letztlich nicht vollends gelungenen Beiträge zur filmischen Verarbeitung des Menschheitsverbrechens Holocaust.

    Der jüdische Arzt Miklós Nyiszli (Allan Corduner) arbeitet als Assistent arbeitet für den berüchtigten Naziarzt Josef Mengele (Henry Stram). Mit dessen Erlaubnis besucht Nyiszli das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, um dort nach seiner Familie Ausschau zu halten. Dort begegnet er neben seinen Verwandten auch dem SS-Oberscharführer Muhsfeldt (Harvey Keitel) und den jüdischen Mitgliedern des im Lager arbeitenden Sonderkommandos. Muhsfeldt hält diese einerseits für Verräter an ihrem eigenen Volk, da sie in seinem Auftrag die Todgeweihten zu den Gaskammern führen und die Leichen anschließend zu den Verbrennungsöfen transportieren – doch er bewundert auch ihren bedingungslosen Überlebenswillen und schätzt sie als fleißige Arbeiter in der Todesindustrie des Holocaust. Als das Sonderkommando eines Tages ein noch lebendes Mädchen (Kamelia Grigorova) aus der Gaskammer rettet und die Männer es mit Nyiszlis Hilfe gesundpflegen, spitzt sich die Situation zu – während im Hintergrund ein Aufstand und die Zerstörung der Krematorien geplant wird.

    Die Hoffnungslosigkeit, mit der die Protagonisten hier ihren schrecklichen alltäglichen Dienst verrichten, erwischt den Zuschauer kalt. Regisseur Tim Blake Nelson verdammt sie nicht, sondern versucht die Menschen zu verstehen, die versuchen, sich ihr Leben zumindest für ein paar Tage zu verlängern, indem sie sich mit dem Bösen verbrüdern. Diese Ausgangssituation ist in ihrer Ausweglosigkeit schwer zu verarbeiten und wirkt bisweilen auch ein wenig konstruiert bis hin zur Thesenhaftigkeit. Allerdings liefern hier ein paar der fähigsten Schauspieler des amerikanischen Gegenwartskinos großartigeLeistungen ab: Neben Allan Corduner als Nyiszli, der versucht, sein eigenes Überleben und das seiner Familie im Anbetracht des maßlosen Massensterbens um ihn herum zu rechtfertigen, überzeugt auch Harvey Keitel als Muhsfeldt, den das von ihm befohlene Morden nicht loslässt, der jedoch keine Zweifel oder Schuld zulassen will. Auch David Chandler, David Arquette, Mira Sorvino oder Steve Buscemi als Gefangene oder Mitglieder des Sonderkommandos glänzen in ihrem moralischen Dilemma. Dabei spielt sich keiner von ihnen mit schrillen Performances oder darstellerischer Gefallsucht in den Vordergrund.

    Wenn das Sonderkommando in einer Szene die Juden zur Kammer bringt, sie auf dem Weg dorthin bestiehlt und einen älteren Mann, der weiß, was ihn erwartet, für seine Widerworte totschlägt, dann hält sich Blake Nelson inszenatorisch zurück und zwingt dem Publikum den Ekel über diese Entmenschlichung nicht auf. Der völlige Verzicht der Regie auf Musik oder Wertungen verleiht der Handlung eine Entrücktheit, die jedes empathische Verständnis unmöglich macht. Wie jedoch sollte man dem Zuschauer das Unfassbare auch auf manipulative Weise näher bringen? Blake Nelson versucht es erst gar nicht, um jede Banalisierung zu vermeiden. So wahrt er sich Konsequenz und erzählerischen Mut, auch wenn der Film dabei in manchen Momenten außergewöhnlich kalt und verstörend bleibt.

    Fazit: Wer in einem Film über den Holocaust Hoffnung, Empathie, einen fassbaren Plot und eine moralische Wertung erwartet, die helfen, das Gesehene zu verarbeiten, der wird von Tim Blake Nelsons „Die Grauzone" überrascht. Der Regisseur hat eine Filmerfahrung geschaffen, die nach neuen Bildern und Herangehensweisen an das Thema sucht, dabei aber womöglich manche Zuschauer durch ihre ungemilderte Grausamkeit ausschließt.

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