Mein Konto
    Außer Atem
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Außer Atem
    Von Ulrich Behrens

    „... I see no difference between movies and life. They are the same.” (Jean-Luc Godard)

    Einfacher könnte eine Geschichte kaum sein: Ein junger Autodieb namens Michel (Jean-Paul Belmondo) tötet einen Polizisten, als er die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Fahrt von Marseille nach Paris überschritten hat und die zwei Polizisten ihn verfolgen. Obwohl er überall von der Polizei gesucht wird, versucht Michel, in Paris eine von ihm angebetete amerikanische Studentin namens Patricia (Jean Seberg) zur gemeinsamen Flucht nach Rom zu bewegen und sich das nötige Kleingeld zu verschaffen, das ihm aus einem Deal mit anderen noch zusteht. Patricia allerdings will sich nicht auf Michel festlegen und in Paris bleiben und ihr Studium abschließen. Und mit dem Geld hapert es auch.

    Eine klassische, auf das Wesentliche reduzierte Film-noir-Geschichte, nicht weiter erwähnenswert, könnte man meinen. Was Jean-Luc Godard 1960 daraus machte, war für die Entwicklung des Kinos jedoch mindestens so bedeutend wie Orson Welles „Citizen Kane” von 1942 oder Akira Kurosawas „Die sieben Samurai” von 1954. Godard warf etliche klassische Regeln des Filmemachens über den Haufen.

    Ohne „Außer Atem” wären die Rollen, die viele große Stars späterer Jahrzehnte gespielt haben, kaum denkbar. Man denke an Al Pacino, Robert de Niro und Jack Nicholson, um nur einige zu nennen. Warum?

    Bereits 1954 hatte Godard-Kollege Truffaut in einem Aufsatz mit dem Titel „Eine gewisse Tendenz im französischen Film” die konventionelle Abhängigkeit der Regisseure vom Drehbuch und den peniblen Vorgaben der Drehbuchautoren kritisiert und mehr Freiheit in der Inszenierung für die Regisseure gefordert. Sie sollten dem Film ihren persönlichen Stil aufdrücken, nicht die Drehbuchautoren. Truffaut selbst drehte mit „Sie küssten und sie schlugen ihn” 1959 einen solchen Film nach seinen Vorstellungen. Godard, der selbst nie Film studiert hatte, sondern sich über das Ansehen unzähliger Filme und Diskussionen mit Freunden wie Truffaut oder Chabrol in die Materie eingearbeitet hatte, sprengte dann mit „Å bout de souffle” etliche Grenzen nicht nur des französischen Kinos.

    Raoul Coutard drehte mit der Handkamera. Studioaufnahmen gab es in „Å bout de souffle” nicht; es wurde auf den Straßen von Paris gedreht. Coutard filmte aus den „unmöglichsten” Situationen heraus, etwa in einem Schaukelstuhl sitzend. Künstliches Licht wurde nicht verwendet. Dialoge wurden abgebrochen, Szenen ohne Übergang direkt aneinander geschnitten. Und vor allem: Godard setzte so genannte Jump Cuts (1), die bislang als Filmfehler des Cutters galten, als Stilmittel ein. Eine ganze Szenenfolge – als Michel und Patrizia in deren Hotelzimmer miteinander reden, streiten, philosophieren, miteinander schlafen – ist durchsetzt von solchen Jump Cuts, ebenso eine Szene, in der Patrizia mit einem Redakteur in einem Café sitzt. Gerade in dieser letzt genannten Szene kann man dies sehr gut beobachten. Während des Gesprächs, das ja eine (dramaturgische) Einheit bildet, achte man auf den Straßenverkehr im Hintergrund: Autos verschwinden plötzlich von der Bildfläche, obwohl man ihr Weiterfahren erwartet.

    Diese Technik entwickelte Godard zum Stilmittel, das von etlichen Regisseuren in den Jahren danach übernommen wurde und heute schon fast zum Überdruss benutzt wird, z.B. auch in Videoclips. Normalerweise würde man denken, dass solche Jump Cuts den Erzählfluss unterbrechen. Wenn ein Schauspieler gerade im Bademantel auf einem Stuhl sitzt, kann er nicht einen Moment später angezogen vor dem Fenster stehen. Doch in „Å bout de souffle” wird der Erzählfluss durch den Einsatz dieses Mittels nicht unterbrochen, sondern im Gegenteil eher beschleunigt. „Å bout de souffle” war 30 Minuten zu lang. Godard bzw. seine Cutter gingen daran, alles herauszuschneiden, was sie für unnötig, langweilig hielten. Auch in der Szene in Patrizias Hotelzimmer sieht man Belmondo mal mit Hemd, mal ohne, mal mit Zigarette, mal ohne, aber nicht in einem konventionellen Stil, sondern von einem Moment auf den nächsten. Erstaunlicherweise wird dadurch jedoch die Kontinuität der Handlung eben nicht unterbrochen oder gebrochen, sondern verschafft dem Film eine zusätzliche Verve.

    Entscheidend ist allerdings, dass die Schnitte so gesetzt sind, dass sie in bezug auf die Bildgeometrie stimmig sind. Das wiederum hängt von der Art der Bilder(folgen) ab. Ein Einsatz von Jump Cuts etwa in dem Sinne, dass ein Schauspieler ohne Unterbrechung erst an einem Ort sitzend zu sehen ist, dann an einem ganz anderen Ort im feinen Anzug mit jemandem sprechend, und direkt anschließend wieder am ersten Ort, wäre für den Betrachter verwirrend und dramaturgisch fehl am Platze. Das deutsche Wort Schnitt passt gerade in bezug auf den Einsatz von Jump Cuts wesentlich schlechter als etwa das französische „montage” oder das englische „editing”. Die beiden letzteren Ausdrücke beschreiben in einem eher positiven Sinn, dass ein Film montiert, editiert wird, während „Schnitt” eher „negativ” mit wegschneiden verbunden ist.

    Auch Godard setzte diese Jump Cuts, sozusagen provozierend, auch in einer das Publikum und die Film-Ästheten verwirrenden und „skandalösen” Weise ein.

    Durch all dies wirkt der Film übrigens halbdokumentarisch, als ob ein mal rasender, mal etwas ruhigerer Filmreporter eine Person in Paris mit der Kamera verfolgen würde.

    „The fact is that, unless you are very good, most first movies are too long, and you lose your rhythm and your audience over two or three hours. In fact, the first cut of Breathless was two and a half hours and the producer said, ‘You have to cut out one hour.’ We decided to do it mathematically. We cut three seconds here, three here, three here, and later I found out I wasn't the first director to do that. The same process was described in the memoir of Robert Parrish, who was an editor on Robert Rossen's All the King's Men [1949] – he was the third or fourth editor, actually, because his predecessors weren't capable of making the cuts. Parrish told Rossen: ‘Let's do something different. We'll look at each shot and we'll only keep what we think has more energy. If it's the end of the shot, we'll throw out the beginning. If it's at the beginning, we'll throw out the end.’ They did exactly what I did later, without knowing what they had done. Only, I said, ‘Let's keep only what I like.’” (Jean-Luc Godard)

    Allerdings machen diese Änderungen „Å bout de souffle” allein noch nicht zu einem revolutionären Film. Godard entfernte sich auch von der klassischen Führung der Handlung. Belmondo spielt einen Gangster, der ein zeitgenössisches Lebensgefühl repräsentiert, einen jungen Mann (Belmondo war damals knapp 27 Jahre alt, wirkte in seiner Art jedoch noch jünger), der alles will, aber trotzdem nicht genau weiß, was er will, der z.B. Patricia will, sagt, er liebe sie, aber nicht so genau weiß, was das eigentlich bedeutet, der durch Paris zieht, läuft, ja rennt, sich in Cafés aufhält, nach Geld sucht, so aussieht, als er gehe er zielstrebig vor, und trotzdem kein wirkliches Ziel vor Augen hat. Warum will er ausgerechnet nach Rom? Dieser Laszlo Kovacs, wie Michel eigentlich heißt, gibt sich einen anderen Namen: Michel Poiccard, aber nicht nur als Tarnung, sondern weil er so sein will wie die Gangster aus dem film noir, vor allem wie Humphrey Bogart, den er nachahmt. Auf seinem Weg durch die französische Hauptstadt sieht man ihn vor einem Filmplakat mit Bogart stehen, das er lange ansieht, des öfteren streicht er sich wie sein Vorbild mit dem Daumen von rechts nach links über die Lippen.

    „Å bout de souffle” ist somit zweierlei: ein neuartiger film noir und in gewisser Weise ein Film noir im Film noir, auch eine Reminiszenz an das Genre. Ihm gegenüber steht eine Frau, die dem allem eher verhalten, ja skeptisch gegenübersteht. Sie schläft gern mit Michel, sie spricht gerne mit ihm, aber fest möchte sie nicht mit ihm zusammen sein. Jean Seberg ist kaum eine klassische Gangsterbraut, eher das Gegenteil: unbedarft, eigenwillig und auch skrupellos. Sie durchschaut Michel kaum. Sie weiß zwar, dass er krumme Geschäfte macht, aber wie sich das alles im einzelnen verhält, weiß sie nicht, und vor allem: Sie will es auch gar nicht wissen. Diese Patrizia ist eher eine Art Sinnbild einer modernen jungen Frau, die über ihr Studium weiter kommen will, sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf des New York Herald Tribune verdient und nur ein begrenztes Interesse an Michel hat. Jean Seberg wirkt noch heute, über 40 Jahre nach Entstehung des Films, als „moderne” Schönheit. Im Film allerdings ist sie auch eine skrupellose Frau. Denn sie verrät Michel bei der Polizei.

    Warum sie ihn verrät und warum Michael sich erschießen lässt, bleibt letztlich unklar und lässt der Spekulation Raum. Der Film lässt die Gründe offen – auch dies in gewisser Weise ein Novum.

    Zu erwähnen ist noch, dass Truffaut die Story des Films lieferte, Claude Chabrol für das Szenenbild verantwortlich zeichnete und Regisseur-Kollege Jean-Pierre Melville in der Rolle eines Schriftstellers, den Patricia interviewen soll, zu sehen ist – jener Melville, der in den 50er Jahren durch seine Filme zu den Wegbereitern der nouvelle vague wurde.

    „Å bout de souffle” ist auch heute noch ein überraschend erfrischender, ja moderner Film, der kaum etwas von seiner Lebendigkeit verloren hat. „Außer Atem” ist eben auch: POP. (Zuerst erschienen bei CIAO)

    (1) Eine „lexikalische Definition”: Schnittart, „bei der aus einer langen, kontinuierlichen Einstellung, z.B. einer Fahraufnahme, Teile herausgeschnitten werden, so dass rhythmische Bild- und Zeitsprünge entstehen” (James Monaco: Film und Neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe, Reinbek bei Hamburg 2003, 2. Auflage, S. 87)

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top