LIEBER DURCHSTARTEN ALS FRÜHSTARTEN
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Eigentlich hätte ich mir denken können, dass es dergleichen geben muss: den „Oscar“ fürs Adult Entertainment. Diese Preisverleihung ist natürlich eine, die abseits des Mainstream maximal die Themen-Presse an den dortigen roten Teppich lotst. Doch wie gesagt: es gibt ihn – den AVN oder Adult Video News Award. So eine Live-Übertragung kann da eine Spur länger dauern als bei der Academy, waren da zuletzt sage und schreibe 99 Kategorien am Start. Aber bitte – das alles weiß ich auch erst seit gestern, seit Sean Bakers neuem Wurf, der einen geschassten Pornostar zurück an den Start schickt, um neu Anlauf zu nehmen. Und eben dieser berufliche Stecher kann sich rühmen, besagten AVN bereits mehrmals gewonnen zu haben. Auf Pornhub hat dieser sogar einen eigenen Kanal. Also was will Mann in diesem Business eigentlich mehr? Da wir seit Pleasure wissen, wie schnell Porno-Starlets wieder in der Versenkung verschwinden, wird mit Red Rocket wiederum klar, wie es maskulinen Helden der Horizontalen eben auch gehen kann. Baker erfindet dafür eine vergnüglich-ironische Bestandserhebung übrig gebliebener Ressourcen, um im Business nochmal durchzustarten.
Gespielt wird dieser dreiste Lebenskünstler, der sich und seine Zukunft neu erfinden will, von einem tatsächlichen ehemaligen Pornoschauspieler, nämlich Simon Rex. Er weiß also zumindest ein bisschen, wie dieses Gewerbe funktioniert, hat aber seitdem bereits auch in anderen, jugendfreieren Filmen mitmischen dürfen, mit denen man aber nicht unbedingt hausieren gehen will. Darunter findet sich die gefühlt hundertteilige Scary Movie-Reihe und sonstiger parodistischer Klamauk. Gut, für Komödien hat Rex also ein gewisses Faible. Und ja: dieses naiv-beschwingte Mähen alltagsproblematischer Wiesen beherrscht der stattliche Schönling durchaus gut. Das fängt schon damit an, wie dieser als Mickey bei seiner im Stich gelassenen Noch-Ehefrau in Süd-Texas nahe Galveston einfällt – mit nichts außer ein paar Dollars in der Tasche und dem wehleidigen Blick eines von der Bordkante getretenen Streuners. Nur ein paar Nächte Unterschlupf, bettelt er – bis er was Neues gefunden hat, wieder ausholen und durchstarten kann. So ein Mann mit Hundeblick erzeugt natürlich Mitleid, also hat er bald ein geliehenes Dach über den Kopf – sonst aber nichts. Er verdingt sich als Hasch-Dealer und lernt alsbald in einem Donut-Laden (klingt wie ein Adult Movie: Donut Hole) die gerade noch minderjährige Strawberry kennen, ein kokettes Mädel mit Sommersprossen und roten Haaren, offen für Neues und vor allem für den großen Traum von Hollywood. Mit der eigentlichen Ehefrau Lexi läuft es allerdings ebenfalls besser, doch Mickey sieht im Gegensatz zu dieser nur in Strawberry den Schlüssel für sein perfekt arrangiertes Comeback. Klar, dass es dabei zu Missverständnissen kommen kann, vielleicht auch zu kleinen Lügen, doch wenn es sich einer wie Mickey richten will, sind kleine Opfer das Mindeste auf dem Weg zu neuerlichem Ruhm.
Wie dieser Simon Rex auf einem klapprigen Fahrrad die kleinstädtischen Alltagsparameter durcheinanderwirbelt, ist kurios und auf sympathische Weise unfreiwillig selbstironisch. Nichts liegt diesem Mickey wohl ferner, als nicht ernstgenommen zu werden. Doch gerade diese Eulenspiegel‘sche Art eines professionelles Sex-Gottes, der wie ein gestrandeter Superheld auf der Suche nach seinem flirrenden Stretch-Overall Gönner, Neider und Skeptiker kompromittiert oder für seine eigenen Zwecke einspannt, schenkt dieser kauzigen, koitusaffinen Sozialkomödie den richtigen Dreh. Mit Bakers The Florida Project konnte ich beileibe weniger anfangen als hiermit.
Was aber da wie dort den pastelligen Traum eines glücklichen Lebens als abkratzbare Fassade vorzüglich illustriert, sind die dem amerikanischen Realismus verwandten blassbunten Bilder, die mit Sunny Side Up am Frühstückstisch beginnen und in der zuckerlrosa Pin-Up-Version eines Eigenheims enden. Mit diesem stilistischen Wunderland gibt sich Sean Baker als zutiefst amerikanischer, dieses Land und dessen Improvisationstalent über alles liebender Künstler, der mit Edward Hopper genauso auf einen schäumenden Milkshake gehen würde wie mit Chloë Zhao, deren Nomadland grundsätzlich betrachtet eine ähnliche, aber viel ernstere Klaviatur spielt.
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