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    Die 120 Tage von Sodom
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die 120 Tage von Sodom
    Von Christian Schön

    Wenige Filme sind so legendenumwoben wie dieser. Im Regelfall liest man mehr über Pier Paolo Pasolinis „Salo – Die 120 Tage von Sodom“, als dass sich die Gelegenheit bietet, ihn zu sehen. Dies trägt zum Mythos „Salo“ bei. Bereits die Entstehungsgeschichte des Films legte den Grundstein dafür. Zum Teil unfreiwillig gerinnt das Werk zum filmischen Testament Pasolinis. Zwar wollte der Filmemacher ohnehin keinen weiteren Film mehr nach „Salo“ drehen, konnte dies allerdings auch nicht mehr, da er noch vor der Uraufführung Opfer eines Verbrechens wurde. „Salo“ bildet damit den radikalen Abschluss des filmischen Werkes von Pasolini. Bekannt geworden als Literat, wollte er sich vom Filmemachen verabschieden und wieder zum Schreiben zurückkehren. Kurz nachdem „Salo“ zum ersten Mal in den Kinos zu sehen war, schritten die Behörden ein, und eine Welle von Klagen führte dazu, dass die Kopien des Films beschlagnahmt wurden. Allzu schockierend war dieses Ereignis jedoch nicht, da es bei fast jedem Werk des Enfant terribles des italienischen Kinos zu zahlreichen Terminen vor Gericht kam. Dennoch greift gerade dieses Radikal-Drama die Sehgewohnheiten stärker an, als wohl jedes andere Werk der Filmgeschichte. In „Salo – Die 120 Tage von Sodom“ wird eine Gruppe Jugendlicher in eine Villa in der Region Salo gebracht. Dort werden sie in jeder nur erdenklichen Weise gefoltert und gequält.

    In vier großen Kapiteln entfaltet sich die Handlung von „Salo“. Die Erzählung setzt in der „Vorhölle“ ein. Man sieht eine Gruppe von vier Männern, die so genannten Libertins (Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Umberto Quintavalle, Aldo Valetti), wie sie ein Regelwerk unterzeichnen. Hierin wird schriftlich festgelegt, was in der Folge nach Plan in der Abgeschiedenheit umgesetzt werden soll. Zur Festigung der vertraglichen Bedarfsgemeinschaft werden zudem die Töchter der vier Libertins untereinander geheiratet. Verlässlich einem Räderwerk kommt die Maschinerie nun ins Rollen. Neben vier Soldaten, werden neun Mädchen und neun Jungen im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren für die zukünftige Rolle als Opfer ausgesucht und nach Salo verbracht. Unterstützung haben die Libertins dabei von vier Frauengestalten (Caterina Boratto, Elsa di Giorgi, Hélène Surgère, Sonia Saviange), die später die Aufgabe haben, anregende Geschichten in großer Runde zu erzählen. Mit diesem täglichen Ritual beginnt der „Höllenkreis der Manien“. Angeregt durch die Geschichten werden erste sexuelle Praktiken mit den Jugendlichen, die sich zunächst sehr wehrhaft zeigen, durchgeführt.

    Ihren Herren ausgeliefert, fügen sie sich jedoch bald ihrem Schicksal. Die kaltblütige Ermordung eines Jungen und eines Mädchens, die sich dem Willen ihrer Entführer zu widersetzen versuchten, schüchtern die Jugendlichen zudem ein. Als eine Heirat für zwei der Jugendlichen ausgerichtet wird, dürfen diese den „ehelichen Pflichten“ selbst nicht nachkommen. Solcherlei Lustgewinn ist lediglich den Privilegierten vorbehalten. Im „Höllenkreis der Scheiße“ findet das Spektrum der sexuellen Spielarten eine Erweiterung um den Bereich der Koprophagie. Da die Libertins einen Widerwillen auf der Seite der Jugendlichen feststellen, Kot zu verzehren, wird ein großes Abendmahl veranstaltet, bei dem ausschließlich diese Speise kredenzt wird. Den Letzten, den „Höllenkreis des Blutes“, läutet erneut eine Hochzeit ein. Diesmal vermählen sich die Libertins mit ausgewählten jungen Männern. Als am nächsten Tag ein Junge bei einem Verstoß gegen die Regeln erwischt wird, zieht dies eine Welle von gegenseitigem Verrat nach sich. Dies bildet den Auftakt zu den unvorstellbaren Höhepunkten der Grausamkeit…

    In „Salo – Die 120 Tage von Sodom“ liegt eine Literaturverfilmung dreifacher Art vor. Zum einen, die offensichtliche Bearbeitung des Romans „Die 120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade. Die meisten der im Film vorkommenden Szenen entsprechen nahezu eins zu eins Übersetzungen der literarischen Vorlage. Bereits im Werk von de Sade angelegt, deutet sich auch die alttestamentarische Geschichte um die mythische Stadt Sodom an. Ähnlich in Pasolinis „Das 1. Evangelium nach Matthäus“ oder „König Ödipus“ führt das im Falle von „Salo“ dazu, dass trotz der Aktualisierungsversuche der Handlung, eine archaische Bildsprache gesucht wird. Der Effekt soll sein, dass das Gezeigte nicht nur im Kontext der Zeit gesehen, sondern nach allgemeingültigen Aussagen gesucht werden sollte. Die dritte literarische Vorlage findet sich in Dantes „Göttlicher Komödie“. Letzteres ist eine Erweiterung, die genuin von Pasolini stammt, und die sich in der Einteilung der Kapitel, den Höllenkreisen, niederschlägt. Der Vorwurf, Pasolini hätte ein nihilistisches Werk in „Salo“ vorgelegt, fällt mit der wertenden Konnotation der „Höllenkreise“ schnell unter den Tisch. In de Sades Roman noch ist der Leser über die eindeutige Bewertung der Handlung auf sich selbst gestellt. De Sade spielt förmlich mit ihm, indem er eine kritische Perspektive im Roman selber versagt. Pasolini bezieht hier stärker Position. Insofern bleibt sich Pasolini, der Zeit seines Lebens auf die Revolution des Subproletariats gehofft hatte, treu. Der einzige Mord im Film, der nicht als Lustmord geschieht, trifft einen der Helfershelfer der Libertins. Dieser macht sich schuldig, indem er eine echte Liebesbeziehung mit einer dunkelhäutigen Bediensteten eingeht. Als er in flagranti ertappt wird, stirbt er, mit der zur Faust geballten, erhobenen linken Hand im Kugelhagel.

    Dass es Pasolini nicht darum ging, eine Art Folie zu schaffen, um Szenen pornographischen, bzw. gewalttätigen Inhalts zu zeigen, verrät bereits der Vorspann. Hier wird eine Reihe von Buchtiteln als „essentiell“ genannt, um sich dem Film überhaupt anzunähern. Darunter finden sich Werke von Roland Barthes, Maurice Blanchot, Simone de Bouvoir und Pierre Klossowski. Diese setzen sich zum größten Teil mit den Schriften des Marquis de Sade oder dessen literarischer Methode auseinander. Bezieht man diese Perspektive mit ein, kann man „Salo“ in eine Reihe von Filmen stellen, die zu dieser Zeit (vor allem in Italien) entstanden. Das Großfamilienepos „Die Verdammten“ von Luchino Visconti oder Bernardo Bertoluccis „Der große Irrtum“ vollziehen bereits eine Gleichsetzung von faschistischen Tendenzen und sexueller Perversion. De Sade, der vor und während der Zeit der französischen Revolution schrieb, bereitet mit seinen Romanen diese Sichtweise vor. Bei den Regisseuren Visconti und Bertolucci kann man jedoch in der Welt der schönen Bilder schwelgen, ohne einen bitteren Beigeschmack aufgrund der schweren Thematik zu haben. Erst Pasolini formuliert mit „Salo“ einen messerscharfen, exakten, kalten Blick auf das System des Faschismus. Oft wurde schon behauptet, dass Pasolinis Film der einzige sei, der eine realistische Innenaufnahme der Geschehnisse in den deutschen KZs visualisiere. Doch ist er zugleich mehr. Denn auch die grotesk-komische Seite, die in Filmen wie „Der große Diktator“, „Sein oder Nicht-Sein“ oder „Das Leben ist schön“ zum Ausdruck kommen, finden sich in „Salo“. Dies macht den Film bei weitem nicht zur Komödie, spiegelt aber dennoch das absurde Theater der Grausamkeit in seiner wahnwitzigen Abgründigkeit wieder.

    Jedoch gestaltet sich der Zugang zum Film – gleichgültig in welcher Richtung man die Handlung deuten möchte – als äußerst schwierig. Denn „Salo“ zeigt nicht nur sado-masochistische Praktiken in allen nur erdenklichen Variationen, die Methodik des Films selbst funktioniert in dieser Dialektik. Sadistisch insofern, dass der Zuschauer durch das gnadenlose Vorführen der Grausamkeiten gequält wird. Beinahe regungslos verharrt die Kamera in ihrer starren Position, ganz gleich was sich im Bildraum abspielt. An lange andauernden Großaufnahmen mangelt es zudem nicht. Masochistisch muss sich andererseits der Zuschauer zeigen, sich den Qualen zu unterziehen, will er den Film bis zu Ende sehen. Vier Jahre zuvor, 1971, inszenierte Stanley Kubrick in A Clockwork Orange eben dieses dialektische Verhältnis von Zeigen und Schauen. Der Protagonist Alex sitzt, ganz wörtlich, in den Kinosessel gefesselt und ist gezwungen, Bilder der Gewalt zu konsumieren. Ziel der Prozedur ist, das Kino als Umerziehungsanstalt zu nutzen; durch das Vorführen von Gewalt, zur Gewaltfreiheit erzogen werden. Ein wenig Brecht, der das Theater zur moralischen Anstalt gemacht hat, mag insofern auch in Pasolini stecken.

    „Salo – Die 120 Tage von Sodom“ ist unbestritten nach wie vor wohl das Extremste, was jemals auf 35 Millimeter gebannt wurde. Gerade in der Perspektive der Kritik am Nationalsozialismus mit all seinen Ausmaßen, die er in der Realität angenommen hat, muss jedoch gesagt werden, dass die Fiktion allemal noch der bessere Ort ist, an dem diese Art Grausamkeit stattfinden kann und auch muss. Muss deshalb, da erst dadurch eine Möglichkeit geschaffen wird, sich an die Taten zu erinnern, bzw. sich bewusst zu machen, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie mit genügen Macht ausgestattet werden.

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