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    Le Grand chariot
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Le Grand chariot

    Einer der schönsten Filme über das Sterben

    Von Jochen Werner

    Den Tod gibt es gar nicht“, heißt es an einer Stelle des Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „La Grand Chariot“. Denn zumindest auf der Theaterbühne kann für die Dauer eines Stückes eine Utopie entstehen, in der der Tod außer Kraft gesetzt, bekämpft und sogar besiegt werden kann. Ausgesprochen wird dieser Satz allerdings von einer Puppe – einem Kasper, einem Hanswurst. Denn bei der reisenden Bühne, die die Künstler*innenfamilie im Zentrum des neuen Film des französischen Altmeisters Philippe Garrel („Lover For A Day“) betreibt, handelt es sich um ein Puppentheater. Eine Kunstform, die es nicht unbedingt leicht hat in unserer Zeit.

    Diesen Ansatz einer Inhaltsangabe zu lesen, macht vielleicht nicht sofort Lust auf den Film. Zu nahe liegt der Verdacht, es hier mit nostalgischem Prätentionsquatsch zu tun zu haben, der mit großer Geste das Sterben einer Kunstform betrauert. Fast meint man schon traurige Artist*innen bei der letzten Trapeznummer unterm Zirkuszelt zu sehen – man kennt das aus dem europäischen Arthousekino, man hat es oft genug gesehen, bitte jetzt nicht nochmal mit Puppen.

    Andererseits ist Philippe Garrel, Teil der zweiten Generation der Nouvelle Vague, nicht unbedingt der erste Regisseur, der einem in den Sinn kommt, wenn man an dieses spezielle Subgenre des Kleinkunstkitsches denkt. Sein Maß an prätentiösem Künstlernabelschaukino hat er zur Hochphase seines Schaffens sicherlich abgeliefert, das schon, aber auch das spielte sich dann doch immer auf höherem Selbstreflexionsniveau ab.

    Solange Simon (Aurélien Recoing) noch lebt, hält er die Familie zusammen.

    Die erste gute Nachricht ist also schon einmal, dass man eigentlich nie das Gefühl hat, dass Garrel sich für die Kunstform Puppentheater geschweige denn deren Verschwinden sonderlich interessiert. Eher ist „Le Grand Chariot“ ein Familienfilm, und das gleich in mehrfacher Hinsicht, denn die drei Geschwister, die im von Vater Simon (Aurélien Recoing) gegründete und auch in schweren Zeiten mit ungebrochener Leidenschaft betriebenen Puppentheater arbeiten, werden von Garrels eigenen Kindern LouisEsther und Léna gespielt. Sie alle sind bereits seit Jahren als Schauspieler*innen tätig, und Louis und Esther Garrel haben auch bereits in einer ganzen Reihe Filmen von Vater Philippe gespielt. „Le Grand Chariot“ aber ist der erste Film, in dem sie alle drei Seite an Seite spielen – und das auch noch als jüngere Generation einer Künstler*innen-Familie, also quasi wie im echten Leben.

    In Philippe Garrels Werk stellt sich diese (nepotistische) Besetzung allerdings nur als konsequenter Schritt dar, ist dieses doch seit jeher exzessiv autobiografischer Natur. Geradezu obsessiv kreiste es immer wieder um persönliche Schlüsselerlebnisse wie die tragische Liebesgeschichte mit der Sängerin und Schauspielerin Nico – und scheute sich dabei keineswegs vor dem Narzisstischen und Egozentrischen. Diese manischen Züge konnten durchaus anstrengend und ein bisschen nervig geraten, treten allerdings seit einigen Filmen, die man wohl als Garrels Spätwerk bezeichnen kann, zunehmend in den Hintergrund.

    Nicht Puppen, sondern ihre Spieler*innen stehen im Zentrum

    So ist „Le Grand Chariot“, obgleich er in seinem durchaus scharf sezierenden Blick auf familiäre und amouröse Beziehungskonstellationen gar nicht mal so gnädig ist, insgesamt ein überraschend friedvoller, melancholischer Film. Es geht darum, wie anfangs noch eng verflochtene Familien allmählich auseinanderstreben, wenn der Tod ausgerechnet jene Menschen ereilt, in denen die familiären Fäden zuvor stets zusammenliefen.

    Zunächst stirbt Vater Simon, kurz darauf die zunehmend verwirrte und umso mehr geliebte Großmutter – und obgleich die beiden Schwestern zunächst allein versuchen, die Bühne weiterzuführen, während Bruder Louis eine erfolgreiche Karriere am Theater beginnt, verändert sich etwas unwiederbringlich, als der Tod den Knoten zerschlägt, der ihre Lebensfäden zusammenhält. Zur Verbildlichung dieser Verflechtung taugt vor allem die Puppentheatermetapher, die sich jedoch weniger für die aufgeführten Stücke als vielmehr für die Körper der Puppenspieler*innen interessiert, die hinter der Bühne auf engstem Raum in komplexen Choreographien fast wie Tänzer*innen miteinander interagieren

    Der Regisseur und sein Alter-Ego

    Und dann ist da noch die Geschichte von Pieter (Damien Mongin), einem Freund von Louis, der als einziges Nicht-Familienmitglied ins Ensemble des Puppentheaters aufgenommen wird. Dieser bringt einiges an Welthaltigkeit in den Film hinein – kurz nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes verlässt er zunächst seine Partnerin Hélène für eine neue Liebe und dann das Ensemble für eine Karriere als Maler. Während die junge Mutter jedoch nach der Trennung in Louis die wahre Liebe ihres Lebens findet, scheitert der in ästhetischen wie amourösen Dingen radikal kompromisslose Künstlertyp Pieter eigentlich in jeder Hinsicht und vor allem an sich selbst.

    Darin gleicht er so manch einem der besessenen Künstlermänner in Philippe Garrels Werk – und taugt vielleicht sogar eher als Doppelgänger des Regisseurs als die weitaus milder gezeichnete Vaterfigur Simon. Während aber Garrels frühere Filme eher selten eine Distanz zwischen sich und diese toxischen Künstlerfiguren brachten, wirkt „Le Grand Chariot“ wie schon sein Vorgänger „The Salt Of Tears“ eher wie eine Aufkündigung dieser lebenslangen Identifikation mit den allzu destruktiven Ausformungen des Künstlertums wie der Männlichkeit an sich. Sicher, einen Funken von Hoffnung auf Vergebung für all das, was man zerstört hat, lässt sich Garrel nicht nehmen. Aber wie sollte man ohne den auch weiterleben können?

    Fazit: Der neue Film des französischen Altmeisters Philippe Garrel pfeift erfreulicherweise auf alles allzu Altmeisterliche! Er ist zwar lebensklug und in gewisser Hinsicht gar friedvoll, behauptet dabei jedoch nie, dass er im Hinblick auf die letzten Dinge irgendetwas besser wisse als wir. Garrel gelingt es, im Spiel auf der Bühne und vor der Kamera eine Welt nach dem eigenen Verlöschen zu entwerfen. Das macht „Le Grand Chariot“ zu einem schönen Film über das Lieben und Sichtrennen, zu einem noch schöneren über Familien – und vielleicht zu einem der schönsten über das Sterben.

    Wir haben „La Grand Chariot“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

     

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