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    Seven Veils
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Seven Veils

    Das erste Sexualverbrechen der biblischen Geschichte

    Von Christoph Petersen

    Bereits 1996, zwei Jahre nach seinem bahnbrechenden Erotik-Drama „Exotica“ und ein Jahr vor seinem großen Meisterwerk „Das süße Jenseits“, inszenierte Atom Egoyan in Toronto eine Aufführung der Oper „Salome“ von Richard Strauss (basierend auf dem Stück von Oscar Wilde). Es war eine eher radikale Inszenierung, die den so tragischen wie brutalen Plot um Salome, die für ihren Stiefvater einen sexy Tanz hinlegt, um dafür im Gegenzug den abgeschlagenen Kopf von Johannes dem Täufer zu erhalten, als erstes „Sexverbrechen der biblischen Geschichte“ deutete. 18 Jahre später wurde Egoyan gebeten, die Inszenierung noch einmal auf die Bühne zu bringen. Er willigte ein – und fasste zugleich den Entschluss, die Erfahrung der Wiederaufführung parallel zu einem Film zu verarbeiten.

    In „Seven Veils“ spielen nun also reale Opernstars wie Ambur Braid (Salome), Michael Kupfer-Radecky (Johannes der Täufer) und Michael Schade (Herod) fiktive Versionen ihrer selbst. Nur Egoyan selbst fehlt, stattdessen verkörpert Amanda Seyfried („Chloe“) die junge Theaterregisseurin Jeanine. Es gibt zwar immer wieder Momente, die sicherlich mehr die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs und weniger die seiner Alter-Ego-Protagonistin widerspiegeln – etwa, wenn sie sich über die plötzliche Notwendigkeit einer Intimitäts-Koordinatorin bei den Opernproben echauffiert. Insgesamt bleibt es aber dennoch eine fiktionale Erzählung – so legt Jeanine auch nicht ihre eigene „Salome“-Interpretation, sondern die ihres inzwischen verstorbenen Mentors (und einstigen Liebhabers) neu auf.

    Amanda Matlovich / Headless Films Inc.
    Jeanine (Amanda Seyfried) steigert sich immer mehr in ihre Inszenierung hinein.

    Salome lässt Johannes den Täufer köpfen, weil sie ihn so sehr begehrt, dass sie seine Haare zumindest einmal streicheln und seine Lippen zumindest einmal küssen möchte – und sei es auch nur nach seinem blutig-brutalen Ableben. Da liegt es nahe, dass Egoyan sein Hinter-den-Kulissen-Melodrama ebenfalls mit Missbrauchs-Thematiken auflädt: In der gefeierten Inszenierung, die nun wieder aufgelegt werden soll, spielten Videoaufnahmen eines Kindes eine zentrale Rolle – und das junge Mädchen mit den verbundenen Augen war niemand anderes als Jeanine, die von ihrem übergriffigen Vater gefilmt wurde. Nun also ist ihre Chance gekommen, die traumatischen Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten …

    … aber als sie bei der Pressekonferenz „kleine, aber bedeutsame Änderungen“ ankündigt, bekommt das Management des Opernhauses sofort Panik – und ihr selbstverfasstes Director’s Statement wird ebenfalls nicht im Programm abgedruckt. Stattdessen soll erneut ein Text ihres verstorbenen Mentors erscheinen. Sie mag inzwischen als Regisseurin selbst am Schalthebel sitzen, aber zum Schweigen gebracht wird sie weiterhin. Parallel dazu fertigt die Ausstatterin Clea (Rebecca Liddiard) im Auftrag der Marketingabteilung einen Video-Blog über ihre Arbeit am abgeschlagenen Kopf von Johannes an – und wird dabei vom Hauptdarsteller trotz Widerspruch angegrapscht. Statt den Vorfall öffentlich zu machen, nutzt sie ihn, um ihrer Freundin Rachel (Vinessa Antoine), der Zweitbesetzung der Salome, zu ihrem großen Auftritt verhelfen.

    Ein wenig cringe – und trotzdem geht das Konzept auf

    „Seven Veils“ schmeißt eine ganze Menge zusammen – und nicht alles funktioniert: So ist etwa das „böse“ Opernmanagement in Form der Leiterin Beatrice (Lanette Ware) schon arg platt geraten – oder Egoyan hatte hier nach persönlichen Erfahrungen einfach noch ein Hühnchen mit jemandem zu rupfen. Auch ist Egoyan sicherlich nicht auf dem „aktuellen Stand“ der Missbrauchs-Debattenkultur (und ebenso sicher hat er daran auch gar kein Interesse). So haben einige Szenen und Dialoge dann doch einen gewissen Cringe-Charakter.

    Aber insgesamt funktioniert das alles andere als neue Konzept, dass sich die Inhalte des Stücks und die Konflikte bei den Proben gegenseitig doppeln oder ergänzen, in diesem Fall doch ausgesprochen gut: Die Spiegelungen der „Salome“-Symboliken im „realen“ Leben sind nicht allzu offensichtlich, aber fast immer fruchtbar. Und auch einige der Inszenierungsideen seiner tatsächlichen „Salome“-Aufführung schwappen gewinnbringend in den fiktiven Teil abseits der Bühne herüber, an allererster Stelle natürlich das nahezu omnipräsente Spiel mit Schatten.

    Fazit: Ein verschachteltes Missbrauchs-Meta-Melodrama, das sicher nicht jeden Ton trifft, in seinem wilden Mix aber trotzdem durchweg fasziniert.

    Wir haben „Seven Veils“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo der Film in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.

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