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    Memento
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Memento
    Von Carsten Baumgardt

    Was bedeuten Erinnerungen und wie sind sie einzuordnen? Das ist das zentrale Thema von Christopher Nolans Independent-Thriller „Memento“. Das faszinierende, kunstvoll verschachtelte Film-Noir-Puzzle über einen Mann ohne Gedächtnis auf Mördersuche widersetzt sich den Konventionen Hollywoods. Ein Meisterwerk des modernen Erzählkinos und nebenbei das Intelligenteste, was seit „Die üblichen Verdächtigen“ auf der Leinwand zu sehen war. Aber Vorsicht: Nolans Kopfnuss ist nicht leicht zu knacken und erfordert hundertprozentige Konzentration.

    Der ehemalige Versicherungsagent Leonard Shelby (Guy Pearce) hat bei einem traumatischen Erlebnis sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Vor seinen Augen wurde seine geliebte Frau Catherine (Jorja Fox) vergewaltigt und anschließend ermordet. An alles, was davor geschah, kann sich er erinnern, was danach auch passiert, vergisst Leonard spätestens nach 15 Minuten wieder, dann sind seine Erinnerungen gelöscht. Um überhaupt seinen Alltag zu organisieren, nimmt er Polaroid-Fotos auf und macht sich Notizen. Doch sein Leben, oder das, was davon übrig geblieben ist, dient nur noch einem Zweck. Er will Rache - Rache für seine geschändete Frau. In akribischer Kleinarbeit zeichnet er den Kriminalfall nach, denn die Polizei glaubt ihm nicht, dass es bei dem Überfall einen zweiten Täter gegeben hat, während er den anderen erschossen hat. Mit Hilfe des zwielichtigen Teddy (Joe Pantoliano) und der nicht weniger durchschaubaren Barkellnerin Natalie (Carrie-Ann Moss) versucht Leonard Licht ins Dunkel zu bringen. Die bedeutsamsten Fakten, die er mühsam gesammelt hat, ließ er sich auf den Körper tätowieren. Ganz oben steht sein Ziel: „Finde ihn und töte ihn!“

    Seine US-Premiere feierte Christopher Nolans mit nur 4,5 Millionen Dollar budgetierter düsterer Thriller auf dem Sundance Filmfestival. Nach Start mit kleiner Kopienzahl in den USA stieg „Memento“ in seiner neunten Spielwoche erstmals in den Top Ten ein, hielt sich dort fünf Wochen und endete bei einem Einspiel von 26 Millionen Dollar – für einen Independentfilm ein hervorragendes Ergebnis. Dieser ungewöhnliche Verlauf hat seinen Grund: Eine außergewöhnliche Mundpropaganda hielt den Film 23 Wochen in den Top 30.

    Doch was macht diesen Erfolg aus? „Memento“ ist schlicht originell und intelligent. Nolan, der das Drehbuch nach einer Kurzgeschichte seines Bruder Jonathan schrieb, kümmert sich nicht um die Konventionen des kommerziellen Kinos. Er dreht die Zeitlinie einfach um. „Memento“ beginnt mit dem Schluss und arbeitet sich „von hinten nach vorne voran“ – in kleinen Etappen von fünf bis zehn Minuten. Parallel dazu verläuft eine zweite, in schwarz-weiß gehaltene Handlungsebene gradlinig nach vorn, um am Ende bei der Auflösung auf die Hauptebene zu treffen. Hört sich kompliziert an, ist es auch teilweise. Jedenfalls solange, bis man sich an Nolans extravagante Erzählstruktur gewöhnt hat. Dabei liegt die Betonung in Nolans Film noir sicherlich auf dem Spannungselement. Denn nicht das Ergebnis, das jeweils am Ende einer Szene steht, ist entscheidend, sondern das warum. Nach und nach wird der Zuschauern, der den Film aus der Perspektive der Hauptfigur Leonard erlebt, förmlich immer tiefer in die verzwickte Geschichte gesogen. Immer mehr Fakten ergeben in dem Puzzlespiel neue Erkenntnisse, die vorhergegangene Ereignisse und die allesamt ambivalenten Charaktere in einem völlig neuem Licht stehen lassen oder anders zu bewerten sind. Wer manipuliert wen und aus welchem Grund? Nichts ist so, wie es scheint. Nolan lässt die Zuschauer bis zum schockierenden Finale genau wie Protagonist Leonard im Dunkeln tappen, um die Geschichte dann mit einem Clou, der „The Sixth Sense“ zur Ehre gereicht, aufzulösen. Genau wie bei M. Night Shyamalan Meisterwerk hat man bei „Memento“ das dringende Bedürfnis, den Film gleich nochmal zu sehen, um alle Details aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Denn die Auflösung ist durchaus diskussionsfähig und die Betrachtung hängt davon ab, wie jeder einzelne die Fakten, die Nolan auf der Leinwand präsentiert, interpretiert – ein schlichtweg genialer Schachzug.

    Dass das gewagte Spiel mit den gegeneinander laufenden Zeitebenen überhaupt funktioniert, ist einerseits dem brillanten Drehbuch von Christopher Nolan und andererseits dem grandios aufspielenden Hauptdarstellertrio zu verdanken. Der Australier Guy Pearce, der bisher als Drag-Queen in „Priscilla – Königin der Wüste“ und als knallharter Cop in „L.A. Confidential“ überzeugte, liefert eine Glanzleistung ab. Er muss seine Figur von Szene zu Szene immer wieder neu ergründen und entdecken, strahlt dabei Verletzlichkeit, aber auch die nötige Härte aus, die er auf seinem Kreuzzug braucht, um glaubhaft zu sein. Ihm stehen Carrie-Ann Moss („Matrix“, „Chocolat“, „Red Planet“), die als undurchschaubares Gift überzeugt, und Joe Pantoliano als zwielichtiger Teddy zur Seite.

    Das alles zusammengezählt ergibt den cleversten Film Noir der letzten Jahre - ein Kopffilm, der aber ausdrücklich nicht zu kopflastig ist. Schlicht: ein Meisterwerk, ohne Special Effects, ohne Gimmicks, ohne Mätzchen – einfach eine faszinierende Geschichte, herausragend gespielt.

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