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    Spurwechsel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Spurwechsel
    Von Johannes Pietsch

    In seiner „Jurassic Park“-Fortsetzung „Lost World“ beschreibt Science-Fiction-Autor Michael Crichton besonders anschaulich das mathematisch-statistische Phänomen von „Spielers Ruin“, jene Beobachtung aus der Mathematik der Fraktale und Chaos-Systeme, nach sich der ein scheinbar stabiles System Wahrheit in einem Zustand des ständigen Lavierens zwischen totalem Stillstand und dem Abrutschen ins Chaos befindet und dass ein kleinster, scheinbar nichtiger Auslöser ein derartiges System völlig destabilisieren kann. Roger Michells „Spurwechel“ zelebriert exemplarisch eine solche Ereignisabfolge: Eine Unachtsamkeit ist es, eine kleine Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr, die das Leben zweier Männer völlig aus der Bahn wirft, ihre gesamte Existenz in eine Kettenreaktion des Chaos stürzt und sie gleichermaßen unentrinnbar aneinander kettet.

    Der eine, Gavin Banek (Ben Affleck), ist ein erfolgreicher Jung-Anwalt, beschäftigt in exponierter Position in der renommierten New Yorker Kanzler seines Schwiegervaters, ehrgeizig, aufstrebend, mit glänzenden Karriereperspektiven und scheinbar ununterbrochen auf der Überholspur des Lebens. Der Prozess um den Nachlass eines besonders wohlhabenden Stiftungsgründers soll ihm das Tor zum endgültigen Karrieresprung aufstoßen. Der andere, Doyle Gibson (Samuel L. Jackson), ist das genaue Gegenteil: Der schwarze Versicherungsangestellte, der seinen beruflichen Alltag damit zubringt, genervten Mitmenschen am Telefon die Vorzüge einer bestimmten Lebensversicherung zu erläutern, ist Alkoholiker auf Entzug und steht vor den Trümmern seiner Familie. Seine Frau ist bereits geschieden, und vor Gericht streitet man sich um das Sorgerecht für die beiden Kinder. Zwei Menschen, die unter normalen Bedingungen nie miteinander zu tun hätten, führt das Moment des Faktors Zufall, das so oft bemühte Flügelschlagen eines Zitronenfalters, zueinander und gegeneinander.

    Im morgendlichen Berufsverkehr begeht der eine, Gavin, eine Unachtsamkeit, beim von ihm verursachten Auffahrunfall bleibt die Fahrtauglichkeit von Doyles Fahrzeug auf der Strecke. Ein harmloser Zwischenfall, der sich mit dem Austausch von Versicherungskarten regeln ließe, doch der arrogante Yuppie ist so sehr in Eile, dass er Doyle im Regen stehen lässt. Und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn beide waren auf dem Weg zu einem alles entscheidenden Gerichtstermin. Doyle verpasst die Anhörung, bei der das Sorgerecht für seine Kinder entschieden wurde. Gavin erscheint zwar pünktlich zu der Verhandlung über das millionenschwere Stiftungserbe eines Mandanten der Kanzler seines Schwiegervaters, aber bei dem Unfall wechselte versehentlich eine entscheidende Prozessakte den Besitzer. Die ist auf einmal in den Händen des verzweifelten Gibson, der wegen einer Gedankenlosigkeit und der darauf auch noch folgenden Überheblichkeit ihres Besitzers auf einmal in der Lage ist, gnadenlos zurückzuschlagen.

    Was nun folgt, ist eine aberwitzige, sich ständig steigernde Spirale aus Hass, Verzweiflung und blindem Aktionismus. Was durch Besonnenheit schnell zu regeln gewesen wäre, läuft auf einmal völlig aus dem Ruder, und die Ereignisse eskalieren. Beide Kontrahenten – der eine möchte seine Akte wiederhaben, der andere die Zeit zurückdrehen, um noch einmal die Chance zu bekommen, vor Gericht um seine Kinder zu kämpfen – verfangen und verstricken sich immer unentrinnbarer in ihren planlosen, blindwütigen Aktionen, zum einen dem Kontrahenten die erlittene Schlappe heimzuzahlen und zum anderen die eigene Scharte auszuwetzen. Insbesondere Gavin rutscht mit jedem Schritt tiefer und unrettbarer in den Morast des von ihm verschuldeten Chaos: Vor seinen Vorgesetzten lügt er über den Ausgang des Prozesses, und sein Versuch, Doyle mittels eines Computerhackers das Konto zu sperren und somit zur Herausgabe der Akte zu zwingen, lässt das beiderseitige Schlamassel sich endgültig zur bipolaren Katastrophe auswachsen, die sogar die Skrupel vor Mordversuchen fallen lässt.

    Nun wäre es dramaturgisch leicht gewesen, den Abwärtsstrudel der beiden ineinander verkrallten Antipoden direkt in den Abgrund zu führen. Doch Regisseur Roger Michell, bislang durch Filme wie „Notting Hill“ eher als Filmemacher romantischer Kost bekannt, wendet im letzten Drittel des Films das Blatt um hundertachtzig Grad und wandelt die persönlichen Katastrophen zu moralischer Katharsis und Läuterung der beiden Hauptfiguren. Durch den Zusammenbruch von scheinbarer Sicherheit und Geborgenheit, Karriere, Wohlstand und Familienbeziehungen eröffnen sich auf einmal nämlich all jene Abgründe und Lebenslügen, auf denen die beiden Protagonisten schon lange vor dem Blechschaden unterwegs waren, diese bislang aber erfolgreich verdrängten und nicht wahrhaben wollten. Gavin muss erkennen, wie korrupt und moralisch verdorben die Kanzlei seines eigenen Schwiegervaters in Wahrheit ist, dass seine eigene Ehefrau ebenso durchtrieben und intrigant agiert und gleichzeitig ohne eine erkennbare Gefühlsregung einräumt, über sein Verhältnis mit der unscheinbaren Sekretärin Michelle schon lange informiert zu sein. Und Doyle kann der Erkenntnis nicht mehr ausweichen, dass er als Familienvater gescheitert und zum friedlichen Zusammenleben nicht in der Lage ist, und dass alle Hoffnungen, vor Gericht das Sorgerecht für seine beiden Söhne zugesprochen zu bekommen, die ihn so lange so intensiv antrieben, völlig trügerisch waren.

    Das Eröffnen von lange verschleierten Abgründen, es ist der Stoff aus den Dramen eines Henrik Ibsen, dessen sich Regisseur Roger Michell und die Drehbuchautoren Chap Taylor und Michael Tolkin („The Player“, „Deep Impact“) hier bedienen. So wie in Ibsens Drama „Gespenster“ das scheinbare Idyll einer gutsituierten Familie durch furchtbare Enthüllungen der Vergangenheit aus den Fugen gerät und einen Abgrund aus Verzweiflung, Schande und Verwerflichkeit offenbart, so erhält auch die scheinbar heile Welt, aus der sich Gavin und Doyle durch das Missgeschick des Unfalls und die darauf folgende Kettenreaktion herausgeworfen fühlen, nachhaltig Risse, beginnt ihre Konturen zu verlieren und in ihren Fundamenten ins Wanken zu geraten. Auffällig ist, wie Roger Michell den Scheincharakter der jeweiligen heilen Illusions-Welt betont, die schon lange nur noch in den Köpfen der beiden Protagonisten bestand und deren Nicht-Existenz sie zu lange verleugneten und verdrängten.

    Sehr ansprechend ist die Charakterzeichnung der beiden Hauptfiguren. Trotz unzweifelhaft begrenzter mimischer Fähigkeiten reizt Bubikopf Ben Affleck seine darstellerischen Möglichkeiten als oberflächlicher, verantwortungsloser Jung-Yuppie durchaus aus. Sein egozentrisches Geltungsbedürfnis, sein planlos-hyperaktives, überstürztes Handeln im Angesicht des selbst verschuldeten Desasters und seine spontanen, unbedachte und unreif-infantilen Denkweisen markieren beispielhaft den Typus der hysterischen Charakterneurose. Doyle Gibson ist das genaue Gegenteil: Ein niedergeschlagen und depressiv wirkender, halb gebrochener Mann, unter dessen Oberfläche lang aufgestaute Aggressionen darauf warten, ungebremst und archaisch durchzubrechen. Großartig besetzt sind die Nebenrollen mit Toni Colette, Amanda Peet, William Hurt und Regisseur Sydney Pollack, der nach „Begegnung des Schicksals“ zum ersten Mal wieder als Darsteller vor der Kamera steht.

    Wie Roger Michell aus seinem psychologisch stringent erzählten Lehrstück über die Unaufhaltsamkeit einer Auseinandersetzung, über Unnachgiebig- und Selbstherrlichkeit und die Eskalation von Frust, Gewalt und Gegengewalt eine Läuterungsparabel macht, ist dramaturgisch durchaus annehmbar und nicht allzu plakativ inszeniert. Wie er jedoch als Quintessenz aus der Bekehrung Gavins vom Saulus zum Paulus und der Rückkehr Doyles zur Zivilisiertheit eine hohle Anklage gegen den American Way of Life stehen lässt, das ist dann leider einfach nur abgedroschen und platt. Es schmälert den Gesamteindruck des Films leider außerordentlich, dass das Psycho-Drama im Schlussakt zur leutseligen Sozialschnulze versandet – ein wenig mehr Mut zum Nonkonformismus gegen den Hollywood-Mainstream und einem weniger glücklichen Ausgang der Handlung ähnlich Joel Schumachers „Falling Down“ hätten dem Film weitaus besser zu Gesicht gestanden.

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