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    Chihiros Reise ins Zauberland
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Chihiros Reise ins Zauberland
    Von Ulrich Behrens

    Alle wichtigen Figuren erscheinen doppelt in dem neuen Animationsfilm von Hayao Miyazaki („Princess Mononoke“, 1997; „Kikis Delivery Service“, 1989; „Heidi“, 1974). Die 10-jährige Chihiro muss sich in der Geisterwelt Sen nennen; die Zauberin Yubaba hat eine Zwillingsschwester namens Zeniba; Haku hat seinen menschlichen Namen vergessen; Chihiros Eltern werden zu Schweinen verzaubert. Der Dopplung der Figuren entspricht die Dopplung der Welt – eine, die wir alle kennen, und eine, die wir erahnen, phantasieren, eine angeblich schreckliche Welt, die sich im Laufe der Zeit als in vielerlei Hinsicht menschlicher erweist als die andere, die „realistische“, „vernünftige“ Welt ohne Geister, Hexerei, verwunschene Personen und merkwürdige Gestalten.

    Unverhofft gerät Chihiro mit ihren Eltern durch einen Tunnel, dessen Ende sichtbar ist, auf der Suche nach dem neuen Zuhause, nach Geborgenheit, nach Sicherheit in eine scheinbar ganz andere Welt. Die Eltern sind voller Optimismus, was das neue Haus, das sie oberhalb des Tunnels zu erkennen glauben, anbetrifft, den neuen Lebensabschnitt – Chihiro nicht. Sie wäre lieber auf ihrer alten Schule geblieben, hätte ihre alten Freunde behalten. Aber sie muss gehorchen. Sie ist das Kind.

    Auf der anderen Seite des Tunnels jedoch verkehrt sich diese Welt der Zweiteilung in anweisende Erwachsene und gehorchende Kinder. Die Eltern werden von einer zunächst unbekannten Geisterhand in Schweine verwandelt. Chihiro, verzweifelt, ängstlich, hilflos, ratlos, trifft auf den jungen Haku, der ihr rät, Kamajii aufzusuchen, um nach Arbeit zu fragen. Nur die Menschen landen nicht in den Kochtöpfen der Geister, die arbeiten, arbeiten, arbeiten. Kamajii sitzt im Keller eines an eine Pagode erinnernden Badehauses. Flinke, kleine, wuselige Gestalten schaffen dem achtarmigen Kamajii die Briketts heran, um den riesigen Kessel zu heizen, der den Gästen des Badehauses, das etliche Stockwerke hat, einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen. Die Geister reinigen sich, die merkwürdigen Gestalten wärmen sich von ihrem Treiben, über das nicht viel bekannt ist. Das Badehaus ist das Zentrum einer Welt, die von der schrulligen, dicken, mit allerlei Schmuck behängten Yubaba mit den großen Augen, die alles sehen, beherrscht wird, die jeden Zauber der Welt zu beherrschen scheint. Kamajii schickt Chihiro zu ihr, denn er hat mehr als genug Helfer. Chihiro, immer noch ängstlich, erstaunt und verwirrt, weiß, dass sie unbedingt Arbeit benötigt, um in dieser Welt zu überleben. Sie lässt nicht locker.

    Die Macht der Kinder. Chihiro, die Yubaba unterlegen ist, die Yubaba letztlich nichts anhaben kann, insistiert: Sie will Arbeit. Dieses Insistieren steht für ihren Instinkt, erwachsen zu werden. Sie will ihre Eltern wieder haben, und sie wird alles dafür tun, sie wiederzubekommen. Yubaba weiß Bescheid: Es ist eine Regel im Geisterland, Menschen am Leben zu lassen, wenn sie um Arbeit bitten. Und so darf Chihiro, zusammen mit Lin, einer menschengleichen Gestalt, von der man jedoch nicht weiß, ob sie einmal Mensch war, die Wannen säubern und die Gäste verwöhnen. Lin, die große Schwester, Haku, der Bruder – damit kann man etwas anfangen.

    Chihiro verliert nicht ihre Angst, aber plötzlich kann sie mit ihr umgehen. Mit ihr und dem Schrecken, der Gefahr, dem Risiko. Spürbar wird die Freundschaft zu Lin und Haku, den ein Geheimnis umgibt, zu dem Chihiro aber dennoch Vertrauen fasst. Chihiro wird erwachsen, vielleicht ohne es zu merken. Sie drängt mit Macht, um Macht über sich selbst zu haben. Auch wenn nach getaner Verpflichtung die Eltern noch lange nicht befreit sind, ähnelt dieses Märchen fast jedem anderen, etwa der Brüder Grimm. Chihiro muss sich mit weiteren Gefahren und Geheimnissen auseinander setzen, etwa mit dem schlammigen, schleimigen, stinkenden Okutaresama, der erst nach dem Bad seine wirkliche Gestalt offenbart, mit dem mysteriösen Gott ohne Gesicht. Alle diese Gestalten, einschließlich Yubaba und ihre Zwillingsschwester Zeniba, Bou, dem Baby, in das Yubaba all ihre Hoffnung setzt, sind nicht einfach gut oder böse. Ihre Charaktere offenbaren sich im Laufe der Handlung als ambivalent. Je mutiger Chihiro handelt, je unbeeindruckter sie zu denen steht, die sie mag, vor allem Haku und Lin, desto mehr wird sie respektiert – auch von Yubaba.

    Eine wunderschöne Geschichte also, und ohne falsche Sentimentalität, ohne den Kitsch so manches Hollywood-Animationsfilms, ohne die aufwendigen digitalen Zaubereien, die man aus anderen Animationen gewohnt ist. Nein, Miyazaki zeichnet noch selbst! Die bunte Vielfalt, die klaren Konturen, die Detailverliebtheit im besten Sinne des Wortes, die phantasievollen Konstruktionen der Zauberwelt, der Figuren sind für sich allein schon sehenswert, passen sich aber zudem in das intelligente Märchen, die Charaktere und Dialoge und allemal den Humor dieses Films nahtlos ein. Allein die Konstruktion des Badehauses ergibt fast eine realistischen Eindruck, d.h. es kommt einem so vor, als wenn es dieses Gebäude irgendwo wirklich geben könnte. Die pralle Fülle von Ideen, die die Geschichte auszeichnet, die überraschenden Wendungen, immer neue Erscheinungen in der Geisterwelt usw. tragen dazu bei, dass nicht nur Kinder dieser Film länger beschäftigen wird. Er regt die Phantasie an. „Sen to Chihiro no kamikakushi“ ist ein in sich stimmiger Animationsfilm, der selbst denjenigen gefallen müsste, die auf Zeichentrick & Co. nicht besondere stehen. Den Oscar hat der Film sicherlich verdient, auch Platz 46 in der Bestenliste der Internet Movie Database.

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