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    Woyzeck
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Woyzeck
    Von Carsten Baumgardt

    „Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Franz Woyzeck ist dieser personifizierte Abgrund, den Georg Büchner 1836 in einem der großen Klassiker der deutschen Literatur zur tragischen Figur machte. Autorenfilmer-Legende Werner Herzog war so fasziniert von der literarischen Vorlage, die nur noch als Dramenfragment erhalten ist, dass er sich der filmischen Umsetzung annahm. Seine kraftvolle, unglaublich intensive dramatische Parabel „Woyzeck“ (1978) orientiert sich sehr eng an der Vorlage, ist stilistisch nah am Theater und fantastisch gespielt von Herzogs Alter Ego Klaus Kinski und Eva Mattes in den Hauptrollen.

    Mitte des 19. Jahrhunderts in einer kleinen Garnisonsstadt: Der Infanterist Franz Woyzeck (Klaus Kinski) reibt sich in seinem Alltag auf. Der stumpfsinnige Militärdienst setzt ihm zu. Bei seinem Hauptmann (Wolfgang Reichmann), der sich über den schlicht gestrickten Woyzeck lustig macht, verdient er sich mit kleinen Diensten wie Rasieren ein paar Groschen dazu, um seine Freundin Marie (Eva Mattes) und seinen unehelichen Sohn zu versorgen. Weitere Pein muss Woyzeck von seinem Arzt (Willy Semmelrogge) erfahren. Der benutzt ihn für medizinische Experimente. So muss er sich monatelang nur von Erbsen ernähren. Von den anderen Soldaten wird Woyzeck getriezt und gedemütigt. Als er erfährt, dass Marie ihn mit einem attraktiven Tambourmajor (Josef Bierbichler) betrügt, steigt - von der Eifersucht in den Wahnsinn getrieben - die Wut in Woyzeck hoch und es bahnt sich eine Tragödie an...

    „Georg Büchners ‚Woyzeck’ ist das Beste, was in unserer Sprache je geschrieben wurde. Der Stoff hat nie seine Aktualität verloren“, schwärmt Regisseur und Autor Werner Herzog. Es war dem ambivalentesten Filmemacher der großen deutschen 70er Jahre ein Verlangen, das literarische Meisterwerk für die Leinwand zu adaptieren. Nur fünf Tage nach Beendigung der Dreharbeiten zu „Nosferatu - Das Phantom der Nacht“ zogen Herzog und sein Team weiter und setzten die Arbeit in Telc (Tschechien) fort. Das hatte auch organisatorische Gründe. Die Formalitäten für die „Nosferatu“-Drehgenehmigung nahmen rund ein Jahr in Anspruch. Den Behörden gaukelten sie einfach vor, sie würden noch für „Nosferatu“ drehen. Und es funktionierte. Dazu war die Drehzeit mit 17 Tagen sowieso sehr kurz. Der 82 Minuten lange und 500.000 Euro teure Film kommt mit sehr wenigen Schnitten aus, etwa 35, wie Herzog berichtet. Der Filmemacher, der bei „Woyzeck“ zum dritten Mal (daneben: „Aguirre, der Zorn Gottes“, 1972; „Nosferatu - Das Phantom der Nacht“, 1978; „Fitzcarraldo“, 1982; „Cobra Verde“, 1987) mit seinem Leibschauspieler Klaus Kinski drehte, wählte bewusst diese extrem langen Einstellungen, die zum Großteil sogar aus der Totalen gezeigt werden. Die Fokus des Publikums sollte einzig allein auf den Dialog gerichtet sein. Inhaltlich orientiert sich Autor Herzog sehr eng an der Vorlage, bleibt nahezu wortgenau bei Büchner. Nur einige Nebenfiguren wurden gestrichen.

    Schauspielerisch knüpft „Woyzeck“ nahtlos an die grandiosen Leistungen von „Aguirre“ und „Nosferatu“ an. Klaus Kinski spielt mit einer aufopferungsvollen Intensität, wie sie wahrscheinlich niemand sonst auf die Leinwand bringen konnte. Er ist ein Getriebener, eine geschundene Kreatur, die mehr und mehr in Richtung Abgrund driftet, in den Wahnsinn abrückt. Im Gegensatz zu Produktionen wie „Aguirre“, „Fitzcarraldo“ oder „Cobra Verde“ zeigte sich der Egomane relativ zahm, was Co-Star Eva Mattes auch in Herzogs 1999 entstandener wundervoller Kinski-Hommage „Mein liebster Feind“ bestätigt. Die Disziplin Kinskis hatte zwei Gründe. Zum einen liebte er die Büchner’sche Vorlage und zum anderen hatten ihn die Dreharbeiten zu „Nosferatu“ ausgelaugt. Er war physisch am Ende. Das nutzte Herzog konsequent aus, um aus Kinski das beste und letzte herauszupressen. Sein intensives Spiel gipfelt in der fast surrealen Mordszene, die in extremer Zeitlupe hoch stilisiert und schmerzhaft in Szene gesetzt wird. Ursprünglich war Bruno S. für die Hauptrolle vorgesehen, aber irgendwann dämmerte es Herzog, dass es nur mit Kinski gehe, wie er später berichtet. Da er Bruno S. aber schon die Zusage gegeben hatte, kam er in die Bredouille. Deshalb versprach der Münchner seinem Star aus „Jeder für sich und Gott gegen alle“ (1974), einen anderen Film mit ihm zu machen. Das war dann „Stroszek“, der 1977 sogar noch vor dem Doppel „Nosferatu“/„Woyzeck“ entstand. Die Fassbinder-erfahrene Eva Mattes, mit der Herzog bereits in „Stroszek“ zusammengearbeitet hatte, glänzt als Idealbesetzung für die Marie. Sie strahlt die Sinnlichkeit und Verruchtheit aus, die sich Herzog gewünscht hatte. Bei den Filmfestspielen in Cannes, wo der Film 1979 uraufgeführt wurde, erhielt sie den Preis als beste Nebendarstellerin.

    Vom optischen Konzept her geht Herzog bei „Woyzeck“ andere Wege. Triumphierte in seinen übrigen Produktionen mit Kinski zumeist die Optik über den Inhalt, so steht diesmal ganz klar der Text im Brennpunkt. Die Kamera von Jörg Schmidt-Reitwein bleibt oft auf Distanz und weitgehend funktionell. Nur bei gelegentlichen Landschaftsaufnahmen funkelt Brillanz auf. So zum Beispiel bei Woyzecks Gang durch das Mohnfeld, das betörend photographiert ist. Erwähnenswert ist auch noch die Tatsache, dass es im ganzen Film nur einen einzigen Gegenschnitt gibt (als Marie sich vor dem Spiegel betrachtet). Schmidt-Reitwein erzeugt die räumliche Orientierung des Zuschauers durch Kameraschwenks und Raumtiefe, die er seinen Bildern verleiht und nicht durch konventionelle Schnitte. Die Musik steuerte ausnahmsweise nicht Herzog Hauskomponist Florian Fricke (alias Popol Vuh) bei, sondern das Fiedelquartett Telc, das sich mit der Instrumentalisierung zumeist dezent im Hintergrund hält. Dazu integriert Herzog Stücke von Antonio Vivaldi und Benedetto Marcello. Für die perfekte Ausstattung war wieder Herzogs langjähriger Weggefährte Henning von Gierke verantwortlich.

    „Woyzeck“ wurde bereits mehrfach verfilmt und wird noch heute oft am Theater gespielt. Diesen theatralen Ursprung leugnet Herzog auch nie. Im Gegenteil. Er legt seine dichte Inszenierung bewusst theaterhaft an, damit die Dialoge ihre gesamte Kraft entfalten können. Durch die Orientierung am altertümlichen Textstil wird einerseits strikte Werktreue garantiert, aber andererseits erschwert dies den Zugang für den Zuschauer. Die Figur des Woyzeck ist ein typischer Herzog’scher Antiheld, wie er in nahezu allen seinen Filmen vorkommt. Eine Identifikation mit dem simplen, im Grunde herzensguten Tor, der von seiner Umwelt derart tyrannisiert wird, dass er dem Wahnsinn verfällt, ist nicht einfach, was eine gewisse Distanz zum Publikum erzeugt. Das ist aber auch das einzige, was zu kritisieren ist. So fügt sich „Woyzeck“ mühelos in die Reihe der Herzog/Kinski-Meisterwerke ein.

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