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    Der Tintenfisch und der Wal
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Tintenfisch und der Wal
    Von Alina Bacher

    213 691 Scheidungen im Jahr 2004 - so nüchtern sich diese Zahl auch geben mag, hinter der sechsstelligen Nummer verbirgt sich weitaus mehr. Unzählige Beschimpfungen, viel zu Bruch gegangenes Porzellan, Tränen, Kummer und Schmerz. Meistens sind die Leidtragenden dieses Erwachsenen-Streits die Kinder. „Warum liebt Papa Mama nicht mehr? Bin ich vielleicht daran Schuld“ - Fragen, mit denen viele Scheidungskinder tagtäglich zu kämpfen haben. Trennung in der Familie ist ein Thema, das die Filmbranchen immer häufiger aufgreift. Fast möchte man meinen, dass zu solch einer Thematik bereits alles gesagt sei, aber Regisseur Noah Baumbach bannt mit seinem ehrlichen, von der eigenen Jugend inspirierten Film „Der Tintenfisch und der Wal“ eine bittersüße Familienstory auf die Leinwand. Eine Geschichte über Höhen und Tiefen, Freude und Leid, Liebe und Streit- kurz gesagt, eine Geschichte, wie sie nun mal das Leben schreibt.

    Brooklyn, 1986. Auf den ersten Blick wirken die Berkmans wie eine intakte Familie: Gemeinsames Tennis spielen am Wochenende, gehobene Diskussionen beim Abendessen, ein hübsches Häuschen mit gepflegter Einrichtung- alles scheint perfekt. Doch hinter der friedlichen Fassade bröckelt das Familienglück gewaltig. Bernard (Jeff Daniels), Vater und Familienoberhaupt, war einst ein gefeierter Schriftsteller, doch nun stoßen seine Manuskripte bei Verlegern auf taube Ohren. Anstatt zu schreiben, verdient er sein Geld als Literaturprofessor. Um so härter trifft es ihn, als seine Frau Joan (Laura Linney) plötzlich auch mit dem Schreiben beginnt und das sehr erfolgreich. Doch der ständige Streit der beiden Eltern rührt auch noch woanders her: Joan hat Bernard betrogen, und das mehr als nur einmal. Das ewige Zusammenraufen funktioniert einfach nicht mehr und so beschließen Joan und Bernard fortan getrennte Wege zu gehen. Ganz zum Leidwesen ihrer beiden Söhne Walt (Jesse Eisenberg) und Frank (Owen Kline), die von der Entscheidung ihrer Eltern wahrlich überrumpelt werden, dachten sie doch die ganze Zeit in der „perfekten“ Familie zu leben. Doch die Trennung ist bereits beschlossene Sache. Bernard zieht aus und fortan teilen sich die beiden ihre Kinder nach einer strikten Wocheneinteilung. Kein Wunder, dass der 16-jährige Walt und sein 12-jähriger Bruder die Situation nicht gutheißen und mitten in einem Streit stehen, in dem auch sie Farbe bekennen müssen. Während Walt und Frank auf sich allein gestellt mit ihren Problemen kämpfen, versuchen Bernard und Joan ein neues Leben zu beginnen: Bernard nimmt seine attraktive Studentin Lilli (Anna Paquin) als Untermieterin auf, Joan beginnt eine Affäre mit Franks Tennislehrer Ivan (William Baldwin). Doch bald müssen auch sie einsehen, dass eine Trennung weitaus mehr Folgen mit sich bringt, als anfänglich angenommen...

    Eine heile Familienwelt, die plötzlich zusammenbricht - die Story klingt bekannt. Darf sie aber auch, denn schließlich ist das eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt. Ein Film, der rein theoretisch sich in vielen Familien auf der ganzen Welt so, oder so ähnlich abspielen könnte. Genau dieser unverzerrte Blick auf das wahre Leben ist es, der „Der Tintenfisch und der Wal“ auszeichnet. Weder übertrieben noch zu nüchtern schildert Noah Baumbach seine teils autobiographische Geschichte über eine Familie, die komplett zu zerbrechen droht. Eine gelungene Balance aus Humor und Tragik, die nie unnötig in die Länge gezogen wird. Allerdings fällt der Film in mancher Hinsicht doch wirklich sehr knapp aus und beraubt sich so leider selbst seiner Chancen.

    Aus der tragischen Situation entsteht zeitweise eine ganz eigene Art von Humor. Doch die Komik wird niemals durch schräge Gags erzwungen, sondern entwickelt sich ganz von selbst zu einem der tragenden Stützpfeiler des Films. Sei es, wenn die Familie plötzlich merkt, dass bei der Besitzaufteilung die Katze außer Acht gelassen wurde, oder die typischen pubertären Fehltritte von Walt und Frank- Regisseur Noah Baumbach setzt auf bittersüßen Humor ohne viel drum herum.

    Mit ein Grund, warum „Der Tintenfisch und der Wal“ so wahrhaftig wirkt, liegt an dem ausgezeichneten Drehbuch. Regisseur Noah Baumbach ließ beim Schreiben des Scripts auch viele seiner persönlichen Erfahrungen mit einfließen. Selbst in den 80er Jahren in Brooklyn als Sohn eines geschiedenen Literatenehepaars aufgewachsen, kehrte er zum Dreh an viele Orte seiner Kindheit zurück. So gehört zum Beispiel das Haus der Berkmans im wahren Leben einem alten Kindheitsfreund Baumbachs. Trotz der vielen autobiographischen Züge liefert Baumbach keine trockene Kindheitsschilderung, sondern erzählt eine ganz neue, eigene Geschichte mit viel Charme und Gefühl. Baumbach: „Es ist zwar wahr, dass ich in Brooklyn aufgewachsen bin und miterlebt habe, wie sich meine Eltern scheiden ließen. Aber dennoch ist sehr viel in dem Film frei erfunden. Was echt ist, ist die Emotion.“

    Nicht nur für die angemessene Portion Gefühl, sondern auch für eine hervorragende Besetzung beweist Baumbach das richtige Händchen. Jeff Daniels, der besonders für seine komischen Rollen wie in Woody Allens „The Purple Rose Of Cairo“ bekannt ist, läuft zu Hochform auf und gibt sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Traurig, witzig und verletzlich zugleich ist seine Rolle des vom Thron gestoßenen Patriarchen immens authentisch. Mit Laura Linney (Kinsey, Die Truman Show) gelang ein weiterer Glücksgriff. Während die wandlungsfähige Schauspielerin in Der Exorzismus von Emily Rose noch eine verbitterte Anwältin spielte, schlüpft sie nun in die Rolle einer liebenden und leidenden Frau und Mutter. Für die Rollen der beiden Kinder lag dem Filmteam viel daran, authentische und frische Gesichter auf die Leinwand zu bannen. Die Wahl fiel letztendlich auf die beiden Jungdarsteller Jesse Eisenberg und Owen Kline. Während Jesse Eisenberg bereits in Filmen wie Verflucht und der schwarzen Komödie „Roger Dodger“ Filmerfahrung sammelte, liefert der junge Owen mit „Der Tintenfisch und der Wal“ sein Spielfilmdebüt ab. Eine Erstaufführung, die sich durchaus sehen lassen kann. Für die Rolle der hübschen Studentin Lilli konnte Baumbach Oscarpreisträgerin Anna Paquin (Das Piano“, X-Men) gewinnen. Alles in allem eine grandiose Besetzung, die bereits für ihre Ensembleleistung mit dem „Gotham Award“ ausgezeichnet wurde.

    „Der Tintenfisch und der Wal“ ist eine bittersüße Familiengeschichte mitten aus dem Leben gegriffen. Etwas knapp, aber genau richtig für einen Sonntagnachmittag im bequemen Kinosessel. Das Thema Scheidung wird besonders in unserer heutigen Gesellschaft, in der der Trend eher in Richtung „Tagesbraut“ als zur „Bis dass der Tod euch scheidet“-Ehe geht, nie an Aktualität verlieren. Doch in all dem Beziehungschaos und Gefühlswirrwarr unserer Zeit, sollte man eines nie vergessen: „Es ist besser, geliebt und verloren zu haben, als niemals geliebt zu haben.“ (Samuel Butler).

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