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    Drawing Restraint 9
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Drawing Restraint 9
    Von Christoph Petersen

    Wenn Sie ihren kulturellen Horizont erweitern wollen, aber schon das Abrasieren von Augenbrauen und Haaren, um sich anschließend einen Umhang aus Tintenfischhäuten anzulegen, eher für Kasperle-Theater als Kunst erachten, sind Sie mit Matthew Barneys Kunstfilm-Projekt „Drawing Restraint 9“ auf jeden Fall schlecht beraten: Man bekommt in den abgehobenen 138 Minuten, die mit Sicherheit zu den ungewöhnlichsten der Kinogeschichte zählen, nämlich noch viel durchgeknalltere und absurde Installationen und Anordnungen vorgesetzt. Dabei gibt es in den meisten Sequenzen vieles zu entdecken – wenn man sich vorher ein wenig schlau gemacht hat, sogar manchmal einen Sinn – und die visuellen Werte sind äußerst beeindruckend, aber wenn man auf Barneys Schiene nicht voll einsteigt, können auch die langweiligsten zwei Stunden seines Lebens vor einem liegen.

    Die „Handlung“ spielt sich zum Großteil an Bord des Walfangschiffes Nisshin Maru ab. Hierher sind die beiden westlichen Gäste (Matthew Barney und seine Ehefrau Björk, Dancer In The Dark) gekommen und beginnen nun, sich bei einer Teezeremonie ineinander zu verlieben. An Deck des Schiffes befindet sich auch eine gewaltige Gussform, die mit von einer Prozession aus hunderten japanischen Tänzern, Ochsen, Pferden und Wildschweinen an Bord gebrachter, heißer Vaseline gefüllt ist. Mit der Zeit kühlt die Vaselinmasse langsam ab und die Oberfläche verhärtet sich. Mit den unterschiedlichsten Methoden und Werkzeugen fangen die Arbeiter des Schiffes an, die angetrocknete Vaseline zu bearbeiten. Als sie schließlich die Gussform öffnen, fällt die Skulptur langsam in sich zusammen…

    Die Frage „Ähhhh?“ dürfte wohl in mehr als nur einigen Gedankengängen zu dieser Inhaltszusammenfassung vorgekommen sein, aber auch wenn bei manchen Sequenzen die Vermutung nahe liegt, dass es Barney nur um den visuellen Ausdruck geht, lässt sich der zumindest oberflächliche „Sinn“ vieler Szenen nicht bestreiten: So steht die langsame Verhärtung der Vaselinoberfläche für die geänderten Gegebenheiten der Ozeane und die Arbeitsschritte, die die Arbeiter an der Vaselinskulptur vornehmen, entsprechen genau denen, die sie bei der Verarbeitung eines gefangenen Wales anwenden würden. Ob neben diesen Deutungsmöglichkeiten aber auch noch eine „tiefere“ Aussage hinter den Bildern steckt, ist dann doch schon eher fragwürdig.

    Was für Joseph Beuys das geschmolzene Wachs war, ist für Matthew Barney die flüssige Vaseline. Neben ausgefallenen Kostümen und den technischen Gerätschaften der Nisshin Maru ist die Vaseline der Hauptbestandteil seiner Installationen. Schon in seinen vorherigen Filmprojekten, den einzelnen Teilen des „Cremaster Cycle“ (die ihn neben der Modern-Arts-Szene auch in der Kinoszene berühmt machten), hat Barney die surrealsten Ideen mit dem ungewöhnlichen Werkstoff verwirklicht. Aber in „Drawing Restraint 9“ treibt er es noch weiter: Nicht nur die riesige, einen Walkörper repräsentierende Gussform wird komplett mit Vaseline ausgefüllt, vielmehr übernimmt die Vaseline nach und nach das ganze Schiff, wird irgendwann sogar den Crew-Mitgliedern als Mahlzeit vorgesetzt. Höhepunkt bleibt aber die schon fast goreartige Sequenz, in der Barney und Björk sich im Wasser stehend gegenseitig die aus Vaseline bestehenden Beine zerhacken – bevor sie sich in Wale verwandeln.

    Jeder Mensch ist ein Künstler! (Joseph Beuys) Das aufregende an „Drawing Restraint 9“ ist, dass durch die unendlich vielen Deutungsmöglichkeiten eigentlich jeder Zuschauer im Kino einen komplett anderen Film wahrnimmt – erst durch die Vermischung der Bilder auf der Leinwand mit eigenen Ideen und Phantasien kommt das fertige Kunstwerk zustande. So kann man die Montage von Bildern der tanzenden, bunt kostümierten Prozession und körperlich arbeitenden Uniformträgern sowohl als Aussage über die beiden Seiten Japans – ausschweifende kulturelle Geschichte und strenge Arbeitsmoral – auffassen, sie aber auch als einfache, wenn auch sehr aufwändig gestaltete Modenschau begreifen. Wenn man sich die Mühe macht, sich durch das Deutungsgeflecht der verschiedenen Sequenzen zu kämpfen, ist der Nährboden für interessante Diskussionen nach dem Kinobesuch aber reichlich gelegt.

    Eigentlich kann man das ausschweifende Projekt „Drawing Restraint 9“ nicht in so etwas wie eine Punktewertung quetschen - es gibt keine wirklich narrativen Elemente, keine echten Schauspiel-Leistungen und keine hundertprozentig nachvollziehbaren Aussagen, die man bewerten könnte. Objektiv kann man eigentlich nur sagen, dass die Bilder weniger aufregend und damit auch weniger fesselnd sind, als in Barneys „Cremaster“-Teilen. Ansonsten lässt sich die Qualität nur daran messen, wie sehr man sich als Zuschauer von den abgehobenen Geschehnissen auf der Leinwand beeindrucken, verblüffen oder gar zum Nachdenken anregen lässt – und das ist eine Erfahrung, die jeder für sich alleine machen muss. Wenn man vorher noch keines von Barneys Werken betrachtet hat, ist der Kinobesuch von „Drawing Restraint 9“ ähnlich wie ein Glücksspiel: Man kann eine großartige Reise durch gigantische, surreale Bilderwelten gewinnen oder gut zwei Stunden seines Lebens verlieren.

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