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    M - Eine Stadt sucht einen Mörder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    M - Eine Stadt sucht einen Mörder
    Von Ulrich Behrens

    Das Fehlen von etwas. Ein Ball springt über eine Wiese. Ein Treppenhaus ist leer. Der Ruf einer Mutter ertönt, unbeantwortet. Ein Mann wird gesucht. Fragen erhalten keine Antwort. Aber nicht nur diese Art von Fehlen, von Defizit, kennzeichnet einen Film, einen der ersten Tonfilme, „M“ von Fritz Lang. Es „fehlt“ noch mehr: das Begreifen dessen, was geschieht, eine irgendwie geartete Ein-Sicht in das Unermessliche und die Vorstellungskraft Übersteigende. Eine Stadt jagt einen Mörder. Nicht irgendeine Stadt, sondern die Reichshauptstadt Berlin jagt einen Kindermörder, von dem niemand nur das Geringste weiß. Acht Kinder sind verschwunden, ein neuntes wird vermisst: Elsie (Inge Landgut), die kleine Tochter von Frau Beckmann (Ellen Widmann). Und während Kinder im Kreis den Reim:

    „Warte, warte nur ein Weilchen,

    bald kommt Haarmann auch zu dir

    mit dem kleinen Hackebeilchen

    und macht er Leberwurst aus dir.“

    in textlicher Abwandlung eines harmlosen Kinderreims („Warte, warte nur ein Weilchen, Bald kommt auch das Glück zu dir. Mit dem ersten blauen Veilchen Klopft es leis' an deine Tür.“) sprechen – unter Bezug auf den Kindermörder Haarmann –, blickt Frau Widmann das Treppenhaus hinunter, das sich wie eine Spirale ins Nichts zu ziehen scheint. Es ist leer. Keine Elsie zu sehen oder zu hören. Die Gewissheit, dass Elsie dem unbekannten Mörder zum Opfer gefallen ist, kommt sehr bald.

    Fritz Lang („Metropolis“, 1927; „Das Testament des Dr. Mabuse“, 1933), der über die Verbrechen einiger Kindermörder wie Haarmann oder Kürten (der als „Vampir von Düsseldorf“ schreckliche Publicity erlangt hatte) in der Zeitung gelesen hatte, ebenso übrigens wie einen Pressebericht über Kriminelle, die auf eigene Faust einen solchen Täter gesucht hatten, wendet sich mit „M“ einer realistischen, manchmal geradezu dokumentarisch akribischen Darstellung der Jagd auf einen solchen Täter zu. „Ich wollte von solchen Monsterfilmen wie ‚Metropolis’ oder ‚Frau im Mond’ wegkommen und einen intimeren, tiefergehenden Film machen“, äußerte Lang Jahre später in einem Interview.

    Aber Lang wäre nicht Lang, wenn er es bei einer solchen filmischen Schilderung belassen hätte. Durch einen für die damalige Zeit erstaunlichen Einsatz von spärlich eingesetztem Ton und einer spezifischen Schnittfolge spitzt Lang die Geschichte auf den Höhepunkt der „Gerichtsverhandlung“ am Schluss des Films zu.

    Zunächst aber steht die Polizei lange Zeit vor einem Rätsel über die Identität des Mörders. Kommissar Lohmann (Otto Wernicke) steht unter dem Druck des Polizeipräsidenten (Ernst Stahl-Nachbaur), der wiederum vom zuständigen Innenminister (Franz Stein) bedrängt wird, endlich Ermittlungserfolge zu präsentieren. Lang zeigt hier ein längeres Telefonat zwischen Minister und Polizeipräsident, in dem letzterer erzählt, was die Polizei bislang alles unternommen hat, um auf die Spur des Täters zu kommen. Dies zeigt Lang in verschiedenen Szenen. Dann erfolgt etwas Erstaunliches: Lang präsentiert im Wechsel eine Sitzung der Polizei und eine Besprechung zwischen den Bossen verschiedener Gangsterbanden unter Leitung des sog. Schränkers (Gustav Gründgens). Beide Gruppen überlegen, wie sie den Täter fassen können, die Gangster deshalb, weil sie zum einen mit solchen Kindermördern nicht in einen Topf geworfen werden wollen, zum anderen, weil ihre „Arbeit“ durch die dauernden Razzien der Polizei stark behindert wird.

    Lang zeigt die Diskussionen in beiden Gruppen und damit zugleich, wie sich die Überlegungen zwischen ihnen ähneln, Gruppen, die ansonsten natürlicherweise gegeneinander arbeiten. Obwohl beide Gruppen von der Arbeit der jeweils anderen nichts wissen, beginnen parallel die Ermittlungsarbeiten der Gangster und der Polizei. Während auf Vorschlag des Schränkers, eines Mannes, der wegen Totschlags in mehreren Fällen gesucht wird, die Gangster die Bettler der Stadt systematisch in verschiedenen Straßenzügen einsetzen wollen, um verdächtige Personen zu ermitteln, beschäftigt sich auf Vorschlags Lohmann die Polizei mit Akten aus psychiatrischen Anstalten über Patienten, die in den vergangenen fünf Jahren als geheilt oder harmlos entlassen worden waren.

    Und noch etwas wird in diesen Anfangssequenzen mehr als deutlich: Lang zeigt, wie aufgebrachte Menschen zum Mob werden, indem sie wahllos Männer verdächtigen, beschimpfen und festhalten, die mit Kindern auf der Straße reden. In Gestalt von Kommissar Lohmann lässt Lang verlauten, dass die Polizei auf das „Publikum“ bei den Ermittlungen nicht bauen könne: Entweder würden die Leute nur andere verleumden und denunzieren, oder, wenn es darauf ankommt, wisse niemand etwas oder könne sich nicht mehr erinnern. Man müsse schon auf den eigenen Scharfsinn vertrauen.

    Systematisch werden von der Polizei alle Personen aufgesucht, die aus der Psychiatrie als harmlos oder geheilt entlassen wurden, darunter auch ein gewisser Hans Beckert (Peter Lorre), ein unscheinbarer Mann, in dessen Wohnung die Polizei aber zunächst nichts Belastendes findet. Auf der anderen Seite kreisen die Bettler aufgrund eines Hinweises eines blinden Luftballonverkäufers (Georg John) Beckert in einem Bürogebäude ein, wo sich der in einem Verschlag auf dem Dachboden versteckt. Der Blinde hatte das Lied wiedererkannt, das Beckert pfiff, als er der verschwundenen Elsie einen Ballon gekauft hatte.

    Inzwischen haben Lohmann und seine Leute durch Spuren auf der Fensterbank in seiner Wohnung Beckert als vermeintlichen Täter ausgemacht. Für Beckert wird es immer enger – bis ihn der als Schutzmann verkleidete Schränker und seine Gangster im Bürogebäude finden und in eine stillgelegte Schnapsfabrik schaffen, um ihm den „Prozess“ zu machen.

    Lang setzte in „M“ Ton nur spärlich ein. Als Musik diente lediglich das einer Melodie aus der Peer-Gynt-Suite von Grieg entnommene, gepfiffene Lied des Mörders Beckert. In Straßenszenen – als die Bettler Beckert jagen – verzichtet Lang völlig auf Geräusche. Berlin wird als eine zumeist düstere, ganz von der Jagd bestimmte Kulisse präsentiert, in der es nur noch darum geht, einen Mörder zu fangen. Während der unorganisierte Mob, der Unschuldige verdächtigt, im Lauf der Handlung aus dem Blickfeld gerät, geraten Gangster und Bettler ins Zentrum, die eine organisierte Form des Mobs darstellen mit dem Ziel, Beckert zu fassen und zu ermorden.

    Und dazwischen bewegt sich ein Psychopath, der von dem damals noch unbekannten Peter Lorre derart überzeugend gespielt wird, dass ihm diese Rolle zur internationalen Karriere verhelfen sollte. (Lorre musste 1933 Deutschland verlassen und ging über Wien, Paris und London schließlich in die USA.) Lorres Beckert ist gekennzeichnet einerseits von Unscheinbarkeit, ja fast Harmlosigkeit, und dann wieder von einer in Mimik und Gestik ausdrucksstarken Darstellung des Krankhaften, die kaum überboten werden kann. In einer Szene steht er vor einem Geschäft und sieht ein Mädchen, das sich im Schaufenster spiegelt. Beckert bricht hier innerlich zusammen, dem inneren Zwang, diesem Mädchen zu folgen, ihm Süßigkeiten zu kaufen, es dadurch zum Mitgehen zu bewegen, kann er nicht widerstehen. Äußerlich bleibt er gefasst, ganz auf sein Ziel ausgerichtet, den nächsten Mord zu begehen.

    Dies Situation kulminiert nach seiner Festnahme durch die Bettler und Gangster. Beckert wird einem Tribunal der Unterwelt vorgeführt. In einem dunkeln Raum der ehemaligen Schnapsfabrik führt der Schränker als „Vorsitzender Richter“ die „Verhandlung“, angefeuert durch den organisierten Mob. Selbst ein „Verteidiger“ (Rudolf Blümmer) wird dem Mörder zur Seite gestellt. Und nun geschieht etwas, was so aktuell ist, dass einem zeitgenössische Debatten und Auseinandersetzungen um Kindesmissbrauch und -mord unweigerlich in den Sinn kommen. Während der Schränker den Tod Beckerts mit unnachgiebiger Härte fordert, von den anwesenden Bettlern und Gangstern in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre unterstützt, weil man nicht zulassen könne, dass ein solcher Mörder „den 51“ bekommt (Schuldunfähigkeit wegen Unzurechnungsfähigkeit, statt Gefängnis oder Todesstrafe Psychiatrie), dann irgendwann als geheilt entlassen werde und wieder Verbrechen begehe, versucht Beckert verzweifelt, in die Enge getrieben und voller Angst, „sich zu erklären“. Er könne sich gegen den inneren Zwang nicht wehren, und wenn er wieder ein Mädchen umgebracht habe, wisse er hinterher nicht mehr, was er getan habe. Es sei, als würde er durch sich selbst ständig verfolgt. Er wolle nicht töten, er müsse. Sein „Verteidiger“ unterstützt Beckert, fordert wie dieser, keine Lynchjustiz auszuüben und Beckert den Behörden auszuliefern. Wenn es sich herausstelle, dass Beckert bei der Ausübung der Morde nicht zurechnungsfähig gewesen sei, hätte niemand, auch der Staat nicht, das Recht, ihn zu töten.

    Lang ist in seiner Inszenierung in gewisser Hinsicht gnadenlos – denn „M“ ist ein klares, uneingeschränktes Plädoyer gegen Lynchjustiz und gegen den Einzug von Moral und Emotionen in das Rechtssystem. In diesem Sinn war „M“ in einer Zeit des Aufkommens des Nationalsozialismus – auch wenn Lang dies vielleicht nicht geahnt oder zumindest in seinen Ausmaßen nicht absehen konnte – auch eine klare filmische Stellungnahme gegen diese Vermischung von Moral und Recht, die im NS-Rechtssystem („gesundes Volksempfinden“, „Willensstrafrecht“) weitgehend Einzug fand. Der Film endet sozusagen mit einem klaren „Halt! Bis hierher und nicht weiter!“ Lohmann, der von einem Gangster erfahren hat, wo der Schränker Beckert versteckt hält, dringt in die „Gerichtsverhandlung“ ein und nimmt Beckert fest, der vor ein ordentliches Gericht gestellt wird. Das Urteil bleibt unbekannt. Die letzte Szene zeigt einige der weinenden und verzweifelten Mütter, von denen eine sagt: „Davon [durch die Verurteilung] werden unsere Kinder nicht wieder lebendig, man muss eben noch besser auf die Kinder Acht geben.“

    Das „Fehlen“, das Defizit scheinen allmächtig. Das Brandzeichen „M“ auf der Schulter des Mörders, die Inquisition und die sich in Pöbelaktionen verkehrende Hilf- und Ratlosigkeit lassen eine Gesellschaft aus den Fugen geraten. Eines der abscheulichsten Verbrechen lässt eine Stadt, eine Großstadt, ja die größte Stadt Deutschlands, Berlin, aus den Fugen geraten. Harmlose Menschen werden zum Mob, Kriminelle und Bettler organisieren eine Verfolgungsjagd mit dem Ziel, durch eine in jeder Hinsicht ungerechte „Verhandlung“, die nur als Makulatur für ein justizförmiges Verfahren da steht, ein schon feststehendes Urteil zu vollstrecken. Gerade diese „Verhandlung“ erinnert an die blutigen Folgen der Inquisition. Eine Schein-Moral – geboren aus Angst, Fassungslosigkeit und Schmerz – ersetzt das aufgeklärte Bewusstsein. Die Polizei und die Politik (Minister) sind lange Zeit hilflos und machtlos gegenüber dem, was geschehen ist und weiter geschieht. Nur der Bedächtigkeit und Nüchternheit eines Kommissars, Lohmann, ist es zu verdanken, dass letztlich ein Lynchmord verhindert wird.

    Die Präzision und akribische Genauigkeit in der Darstellung dieser Geschichte ist wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass der Produzent des Films, Seymor Nebenzahl (Nero-Film), Lang weitgehende Freiheit bei der Umsetzung ließ. Der Film war schließlich auch ein Risiko. Denn es war nicht gerade üblich, einen Film ohne irgendeine Liebesgeschichte zu drehen und die Öffentlichkeit gleichzeitig mit einem derart sensiblen und schwierigen Thema zu konfrontieren. Dementsprechend unterschiedlich waren auch die Reaktionen. In der „Weltbühne“ warf eine Kritikerin Lang vor, der Film sei „ein hohes Lied auf die Asozialen, ein hohes Lied auf die Gewalttätigen, Verbrecherromantik der schlimmsten Sorte“ – eine Meinung, die dem Film in keiner Weise gerecht wird. Andere lobten Lang für seinen Mut. Und auch in den USA erfuhr der Film im Wesentlichen positive Bewertungen.

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