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    Rocco und seine Brüder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Rocco und seine Brüder
    Von Jonas Reinartz

    Ein monochromes Bild von einer Situation, die eindeutiger kaum sein könnte. Zwei Männer stehen sich in einem Boxring gegenüber. Das Kameraauge blickt in einer Totale leicht schräg von der Decke auf sie herab, grelles Licht ist auf den Boden gerichtet, auf dem die Kontrahenten auf ihre animalischen Instinkte reduziert zu sein scheinen und versuchen, einander zu verletzen. Obgleich unzählige in schwarz-weiß gehaltene Boxfilme existieren - diese Beschreibung lässt zunächst an Martin Scorseses Wie ein wilder Stier (1980) erinnern. Dieser übernahm die grelle, nahezu sakrale Beleuchtung, die in „Rocco und seine Brüder“ Luchino Viscontis Kameramann Giuseppe Rotunno auf das Geschehen richtete, und ließ ebenfalls seinen Protagonisten, Jake La Motta, einen cholerischen und viehischen Schläger, gespielt von Robert De Niro, seine Sünden im Ring abbüßen. Doch hier ist die titelgebende Figur, mit einer Ausnahme, ein regelrechter Heiliger, seine Verfehlung ist eine geringe, sie geschieht aus Unbedachtheit. Rocco ist nur ein Zahnrad innerhalb eines epischen Familienfreskos, das Visconti oszillierend zwischen Elementen seiner sozialkritischen früheren und der ausschweifenden, von einem größtenteils geradezu operesken Inszenierungsstil geprägten, späteren Phase seines Schaffens zeigt. Die Tatsache, dass Scorsese die 1992 erfolgte Wiederaufführung in den amerikanischen Kinos unterstütze, mag kaum verwundern, denn er und seine Zunft verdanken diesem Film viel.

    An einem nebligen Morgen trifft die Großfamilie Parondi mit dem Zug in der Metropole Mailand ein, neben der Mutter Rosaria (Katina Paxinou) sind dies Rocco (Alain Delon), Simone (Renato Salvatori), Ciro (Max Cartier) und Luca (Rocco Vidolazzi). Der Vater ist verstorben und ließ seine Hinterbliebenen verarmt in einem ländlichen Dorf im Süden zurück. Kaum angekommen, begibt sich der Tross zum Erstgeborenen Vicenzo (Spiros Focas), der schon früher sein Glück in der Ferne gesucht hatte und mit der stolzen Ginetta (Claudia Cardinale) verlobt ist. Deren Eltern geben gerade ein Fest und sind wenig erfreut über den unerwarteten Besuch; es kommt zum Eklat. Wutentbrannt verlässt Rosaria mit ihren Söhnen das Appartement. Bald gelingt es der Familie, eine kärgliche Sozialwohnung zu bekommen, was nun noch fehlt, ist Arbeit, Zunächst halt man sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, doch schon bald erhält Rocco eine kleine Stelle in einer Reinigung, während Simone seinem Bruder Vincenzo in den Boxsport folgt. Eines Tages lernt der Nachwuchsboxer die Prostituierte (Annie Girardot) kennen und es dauert nicht lange, bis er sich in die frivole junge Frau verliebt. Zunächst werden seine Gefühle erwidert.

    Die buchartige Einteilung in verschiedene Kapitel und eine betonte Episodenhaftigkeit, inzwischen oftmals kopiert, unterstreichen nur zusätzlich die Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit der gewählten Themen. Soziale Umstände sind der Katalysator für allerlei Gefühle, die so alt sind wie die Menschheit selbst. Einen geradezu alttestamentarischen Themenkatalog scheint Regisseur Visconti sich da aufgebürdet zu haben, ohne jedoch auch nur ein einziges Mal den didaktischen Zeigefinger zu heben. Er urteilt nicht, er zeigt. Am deutlichsten wird dies in einer Sequenz, die beim Erscheinen für Aufruhr sorgte und zensiert werden musste. Man wird Zeuge eines Verbrechens, das mit zum Furchtbarsten gehört, was ein Mensch einem anderen antun kann, einer Vergewaltigung. Täter und Opfer wälzen sich im Schlamm. Ohne allzu drastische Bilder wird die absolute Niederträchtigkeit der Tat veranschaulicht. Am Ende steht die geschändete Frau wieder aufrecht, ihr weißes Kleid vom Schmutz durchdrungen. Ein einfaches Bild mit klarer Symbolik, distanziert und unaufdringlich anklagend zugleich, das allzu drastische Schilderungen überflüssig macht. Ohne die Tat zu beschönigen, wird ebenso das Martyrium des Täters vor und nach seinem Vergehen gezeigt. Es handelt sich um ein Werk, das ganz seinem Schöpfer entspricht, überlebensgroß und doch von einer analytischen Distanziertheit geprägt.

    Auch wenn Alain Delon am ehesten mit anderen, emotional unterkühlten Rollen verbunden wird, so ist die Interpretation des Rocco zweifellos eine seiner besten Darbietungen. Mit seiner übermenschlichen Sanftheit, Passivität und Güte erscheint er wahrhaft wie nicht von dieser Welt, eine Tatsache, die Rotunno mehr als deutlich unterstreicht und den französischen Star strahlend schön erscheinen lässt. Jede Einstellung ist ein kleines Wunderwerk, voller kompositorischer Strenge und behutsam zugleich. Coppolas Der Pate (1972) und etliche Arbeiten Scorseses zeigen deutliche Bezüge zu Viscontis audiovisueller Gestaltung, so übernahm der San Franciscoer Filmtycoon beispielsweise gleich den Komponisten Nino Rota. Über alle Zweifel erhaben ist auch die Leistung von Renato Salvatori. Simone ist ein Tier von einem Mann, überbordend vor Jähzorn und Aggressivität, im Innern jedoch ein kleines Kind geblieben. Der Akteur malträtierte den eigenen Körper ein halbes Jahr für die intensiven Boxszenen und trieb die Identifizierung mit seiner Rolle gewissermaßen so weit, dass er sich in Girardot verliebte und sie schließlich heiratete. Jene Szene, in der an der Türschwelle seine Mutter um Verzeihung bittet, ist schlicht einfühlsam und makellos gespielt.

    Visconti zeigt wohlgemerkt nicht „sein“ Mailand, die prunkvollen Orte seiner Kindheit, die ausladenden Anwesen und Lesesäle, die er bestens kennt, sondern die Armenviertel, Gegenden, in denen Knechte der Wohlhabenden ihr ärmliches Dasein fristen und dankbar für jegliche warme Mahlzeit sind. Dennoch ist dies kein Film eines Regisseurs, der die Armut der unterpriviligierten Schichten ausstellen und auf die Weise krampfhaft den Versuch unternehmen würde, sich zu erden. Ein adeliger Künstler, in eine der reichsten Familien Italiens hineingeboren und mit einem mehr als ausreichenden Vermögen ausgestattet, der sich zum Marxismus bekennt und diesen auch in seiner Arbeit anklingen lässt, mag zudem paradox erscheinen, als regelrechter Verräter der eigenen Klasse. Oder ist etwa alles reine Pose? Keinesfalls. Denn obwohl in allen seinen Filmen das leise Bedauern, in eine falsche Zeit, ein irritierendes Jahrhundert hineingeboren zu sein, anklingt, handelte es sich bei ihm nicht um einen wehleidigen Monarchisten, der aufgrund seiner blaublütigen Herkunft andere Herrschaftsverhältnisse herbeisehnte, was vor allem in der „deutschen Trilogie“, bestehend aus „Die Verdammten“ (1969), einer Verlegung des MacBeth-Themas ins Dritte Reich, der Thomas-Mann-Adaption „Tod in Venedig“ (1971) und Ludwig II. (1972), einer Annäherung an den mythenumrangten Wittelsbacher Herrscher, deutlich wird. So sehr seine letzten Filme die Probleme, die angesichts seines Berufs, Familienhintergrunds und politischen Bekenntnisses zwangsläufig aufkommen und ihm bewusst werden mussten, thematisieren, widmete er sich zunächst primär den Belangen jener, für die solcherlei Probleme nicht die geringste Bedeutung besitzen, ihnen geht es primär um Alltägliches, den Gelegenheitsarbeitern, Fischern und Fabriksklaven in Filmen wie „Besessenheit“ (1943), „Die Erde bebt“ (1948) oder diesem.

    Mit „Rocco und seine Brüder“ entstand ein ergreifend intensives Melodram und ein definitiver Klassiker des europäischen Autorenfilms. Aufgrund seiner nach wie vor aktuellen Thematik ist er zudem weitaus zugänglicher als Filme aus dem Spätwerk Viscontis, wie etwa der vorhin erwähnte „Ludwig II.“ oder „Gewalt und Leidenschaft“ (1974), die zum besseren Verständnis eine genaue Kenntnis der Biographie ihres Machers erfordern. Daher sei er besonders Menschen ans Herz gelegt, die sich in die ganz eigene filmische Welt des Ausnahmeregisseurs Luchino Visconti erst noch hineintasten möchten, ein gelungener Einstieg ist hier relativ leicht möglich. Ohne ihn wären zudem Kultfilme wie „Der Pate“ oder „Wie ein wilder Stier“ und selbst der deutsche Solino (2002) nicht denkbar, die in punkto Optik und Erzählhaltung ihrem Vorbild deutlich Tribut zollen.

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