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    Keoma - Melodie des Sterbens
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Keoma - Melodie des Sterbens
    Von Björn Becher

    1976 war der Italo-Western eigentlich schon tot. Große Erfolge gab es nicht mehr in diesem Genre, das von Sergio Leone (Für eine Handvoll Dollar, Für ein paar Dollar mehr, Spiel mir das Lied vom Tod, Todesmelodie) gegründet und am eindrucksvollsten geprägt wurde. Die letzte Erfolgswelle, eine Reihe von ironisch angehauchten Prügelwestern mit Bud Spencer und Terence Hill, die teilweise schon qualitativ den Abstieg markierte, aber immerhin noch unglaublich hohe Summen in die Kassen der Studios spielte, war nun auch vorbei. 1973 gab es mit dem gelungenen Mein Name ist Nobody zwar noch einmal ein allerletztes Aufbäumen des Genres, als es Toninio Valerii unter Mithilfe von Sergio Leone eindrucksvoll gelang, die beiden Seiten der Genre-Geschichten zu vereinen und einen Film zu drehen, der die Züge des harten Italo-Western sowie der lockeren Komödien trug, doch das war nun auch schon drei Jahre her. Sicher gab es noch den ein oder anderen unterhaltsamen Western, so auch der in Deutschland als Sequel vermarktete Nobody ist der Größte, aber ein großer Film war nicht in Sicht. Bis sich im Jahr 1976 die beiden Genrekönner, Regisseur Enzo G. Castellari („Inglorious Bastards“) und Darsteller Franco Nero (Stirb langsam 2, „Django“) zusammentaten, um dem Italo-Western für einen kurzen Moment noch einmal Leben einzuhauchen und ein Meisterwerk zu schaffen.

    Umso verwunderlicher ist es, dass das Projekt unter keinem guten Stern stand. Der Schauspieler und Autor Luigi Montefiori, der auch unter dem Pseudonym George Eastman bekannt wurde, lieferte die Idee, doch das Drehbuch, das die Autoren Mino Roli und Nico Ducci dann ablieferten, war nach Aussagen von Castellari und Nero nicht zu gebrauchen. Nichtsdestotrotz begann man mit den Dreharbeiten und die beiden Freunde setzten sich gemeinsam mit dem Schauspieler Gianni Loffredo jeden Abend hin, um Szenen zu schreiben, die am nächsten Tag gedreht werden konnten.

    Geschadet hat es dem Film nicht. Bei der Story scheint es sich zu Beginn nur um die altbekannten Motive der Rache- und Befreiungsstory zu handeln. Nachdem er im Bürgerkrieg entscheidenden Anteil am Sieg der Nordstaaten hatte, will das Halbblut Keoma (Franco Nero), Sohn eines weißen Vaters und einer indianischen Mutter, in seine Heimat zurückkehren, obwohl er dort aufgrund seiner indianischen Wurzeln immer gelitten hat. Er muss feststellen, dass sich vieles verändert hat. Der Südstaatengeneral Caldwell (Donald O’Brien) hat sich nach dem Krieg zum Herrscher über die Stadt aufgeschwungen und verdient an allem mit. Damit nicht genug, die Pockenseuche hat die Stadt heimgesucht. Caldwell lässt alle Infizierten und Verdachtsfälle in den Behausungen bei der alten Mine in der Nähe einsperren. Den Transport von Arzneimitteln in die Stadt untersagt er. Keoma stellt sich dem General und dessen Leuten entgegen. Der Kampf soll auch zu einer Abrechnung mit seiner Vergangenheit werden. Auf der Seite von Caldwell stehen auch Keomas drei Stiefbrüder (Orso Maria Guerrini, Antonio Marsina, Joshua Sinclair), die ihn als Kind verprügelt und misshandelt haben. Unterstützung erfährt Keoma zu Beginn nur von dem ehemaligen Sklaven George (Woody Strode, Der Mann, der Liberty Valance erschoss, Spartacus), einem der wenigen Freunde in seiner Jugend. Später schafft er es noch einen Arzt (Leonardo Scavino) zu überzeugen, ihm zu helfen und schließlich zieht auch sein Vater (Italo-Western-Legende William Berger), einst der gefürchteteste Schütze des Wilden Westens, nun alt und grau geworden, an seiner Seite in die Schlacht gegen Caldwell und seine Männer.

    Das klingt sicherlich alles nach den typischen Genrezutaten, doch was Castellari daraus gemacht hat, ist etwas Besonderes. Zum einen ist „Keoma“ ein unerschöpflicher Zitatenschatz. Castellari hat all seine Lieblingsfilme in „Keoma“ eingebracht, dabei hat man aber nie den Eindruck, es handele sich um ein Plagiat, sondern es sind liebevolle Zitate, die sich zudem perfekt in den Film einfügen. Die Zitierung erfolgt dabei auf mehreren Ebenen. Die Story greift diverse Elemente von Shakespeare bis hin zur Bibel auf, am deutlichsten jedoch die Passionsgeschichte. Die einzigartige Bildsprache ist von zahlreichen Italo- und US-Western-Klassikern beeinflusst. Am auffälligsten ist die Hommage an Sam Peckinpah, seien es die Shootouts, die ähnlich wie in Peckinpahs legendärem Western The Wild Bunch gedreht sind, oder auch - jenseits der Bildsprache - der Soundtrack, der durchaus an Pat Garrett jagt Billy The Kid erinnert.

    Dort singt Bob Dylan und auch in Castellaris Film spielen Sixties-Klänge eine nicht unwichtige Rolle. Interessant dabei ist, dass Castellari den Film ursprünglich mit Stücken von Dylan und Leonard Cohen vertont hat, nur um ihn dann aber den beiden erfahrenen Italo-Western-Soundtrack-Komponisten Guido und Maurizio de Angelis zu zeigen, damit sie einen Eindruck davon bekommen, was er sich vorstellt. Was diese beiden dann daraus gemacht haben, ist eine Wucht. Die Musik ist in „Keoma“, der in Deutschland übrigens beinahe als x-tes „Django-Sequel“ veröffentlicht worden wäre, genauso wichtig wie die Schauspieler. Durch sie und vor allem durch den Gesang einer Männer- und einer Frauenstimme wird das Geschehen zusätzlich kommentiert. Das erinnert durchaus an den Chor in der griechischen Tragödie, findet aber hier nicht nur in Pausen zwischen den Szenen statt, sondern während der Szenen selbst. Schon dies macht den Film zu etwas Besonderem.

    Castellari hat es aber bei weitem nicht bei einer reinen Zitierung von Vorbildern belassen, sondern selbst innovativ gearbeitet. Der sagenhafte Schnitt, der dafür sorgt, dass in beeindruckend übergeblendeten Szenen Keoma durch die eigene Vergangenheit wandelt und dabei zusieht, wie er selbst als Kind von seinen Stiefbrüdern verprügelt wird, um dann wieder zurück in die Gegenwart zu gehen, ist hier genauso zu nennen wie die Bildkomposition. Diese ist sagenhaft. Mittlerweile schon legendär zum Beispiel die Szene, die Keomas Hand in Großaufnahme filmt. Vier Finger signalisiert er, als Zeichen für 4 Cent, dem Wert von vier Kugeln, was er für die Bewohner als Steuer an Caldwell zahlen wird. Nach und nach klappt er jeweils einen der Finger weg, „hinter“ jedem der Finger steht einer von Caldwells Leuten, bereit zum „Duell“ mit Keoma. Dazu wird das Breitbildformat vollständig ausgenutzt. Auffällig stark wie wohl in keinem anderen Film sind Gegenstände und Figuren bewusst am Rande des Bildes platziert, drängen sich aber trotzdem dem Betrachter auf. Allerdings ist dieser Umstand nur auf einer Leinwand zu genießen, da sich diese Vorzüge im TV oder bei einer Sichtung von DVD – trotz der guten Qualität der deutschen Kinowelt-Scheibe – leider verflüchtigen. Wer daher die Gelegenheit hat, „Keoma“ einmal im Kino zu sehen, sollte sie unbedingt nutzen. Es ist ein einzigartiges und unvergessliches Erlebnis, welches aufgrund der durchdachten und kunstvollen Inszenierung in dieser Hinsicht sogar die Leone-Werke deutlich in den Schatten stellt.

    Man kann sicherlich noch weiter von „Keoma“ schwärmen. Castellari und Nero ist ein großartiges Meisterwerk ihres Genres gelungen und auch wenn danach noch der ein oder andere gute Italo-Western folgte, kann man sagen, dass „Keoma“ ein letztes Ausrufezeichen an das Ende eines großen, heute scheinbar komplett toten Genres setzte. Fans wird es vielleicht freuen, dass Castellari und Nero eine Reanimation planen. Mitte des Jahres 2005 sollten die Dreharbeiten eigentlich losgehen, doch diverse Probleme sorgten bisher für Verzögerungen. Castellari wird aber nicht müde zu betonen, dass das Projekt kommen wird. Franco Nero soll natürlich die Hauptrolle verkörpern, an seiner Seite spielt angeblich Liam Neeson. Auch Genrefan Quentin Tarantino, ein großer Verehrer von Castellaris Arbeiten, soll man für einen kleinen Auftritt gewonnen haben. Man darf gespannt sein, ob es den beiden Veteranen gelingt dem Genre noch einmal - und wenn auch nur für einen Film - Leben einzuhauchen.

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