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    Ken Park
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ken Park
    Von Carsten Baumgardt

    1995 schockierte der ehemalige Fotograf Larry Clark das internationale Publikum mit seinem freizügigen Teenager-Drama „Kids“. Nach „Bully“ legt er nun in Zusammenarbeit mit Top-Kameramann Ed Lachman, der sein Regie-Debüt gibt, den dritten Teil seiner inoffiziellen Trilogie über die jugendliche Gesellschaft Amerikas vor. Das Teenager-Drama „Ken Park“ ist aufrüttelnd, extrem provokant und schockierend. Eine gewagte, intensive Gratwanderung zwischen Anspruch und Voyerismus, die Clark und Lachman aber nicht aus dem Ruder läuft.

    Ausgangspunkt des Films ist der Selbstmord des Teenagers Ken Park (Adam Chubbuck), der sich mit einer Pistole das Hirn wegpustet. Im folgenden werden Geschichten von vier befreundeten Jugendlichen und deren Familien miteinander verwoben. Der Alltag in der kalifornischen Kleinstadt Visalia ist trist. Die Jugendlichen vertreiben sich zumeist die Zeit mit Skateboard fahren und rumhängen. Shawn (James Bullard) schläft mit der Mutter (Maeve Quinlan) seiner Freundin Hannah (Shanie Calahan). Beide haben moralisch keine Probleme, ihre Partner zu betrügen... Der Choleriker Tate (James Ransone) lebt zusammen mit seinen von ihm gehassten Großeltern (Harrison Young, Patricia Place) in seiner eigenen Welt, aus der er nicht ausbrechen kann. Er ist außer Stande, seine radikale Aggressivität zu kontrollieren, was zu einer Katastrophe führt... Der sensible Claude (Stephen Jasso) leidet unter dem Hass seines Alkoholiker-Vaters (Wade Andrew Williams) auf den seiner Meinung nach verweichlichten Sohn. Seine Mutter (Amanda Plummer) ist hochschwanger, kann ihm aber nicht entscheidend helfen, sich zu behaupten. Die Musterschülerin Peaches (Tiffany Limos) hat es auch nicht leicht. Ihr Vater (Julio Oscar Mechoso) ist ein tief religiöser Fanatiker, dem sie als Ersatz für die verstorbene Ehefrau dienen muss. Als er sie mit ihrem Freund Curtis (Mike Apaletegui) bei Sex-Spielen im Bett erwischt, dreht er durch...

    „Der grausame Alltag hinter der Gartenzaun-Idylle amerikanischer Reihenhauskolonien ist längst kein Geheimnis mehr. Nur die Dimensionen familiärer Zerstörungsmechanismen können noch erschrecken. Aus Betrug, Hass, Verständnislosigkeit und religiösem Wahn sind Verrat, Mord, Missbrauch, Gewalt und Irrsinn geworden“, fasst Larry Clark seinen Film zusammen. Clark und sein Co-Regisseur Ed Lachman (Kamera: „Dem Himmel so fern“, „Erin Brockovich“, „The Virgin Suicides“, „La Soufriere“) sind mit „Ken Park“ ein großes Risiko eingegangen. Zu radikal, zu freizügig, zu schockierend ist ihre Betrachtung des etwas anderen Amerikas, um nicht für heftige Kontroversen zu sorgen. Es verwundert kaum, dass in einem Land, in dem Gewalt zur tolerierten Tagesordnung gehört, aber eine versehendlich entblößte Brust von Megastar Janet Jackson die Nation in einen kollektiven Schockzustand versetzt, für einen Film wie „Ken Park“ kein Platz ist. In den USA traute sich kein Verleih, das Werk in die Kinos zu bringen. Clark und Lachman beschränken sich nicht wie in „Kids“ darauf, Jugendliche bei Sex- und Drogenorgien zu zeigen, diesmal geht es noch ein Stück weiter des Weges.

    In einer Szene masturbiert James Ransone vor laufender Kamera während Anna Kurnikowa im TV auf dem Tennisplatz stöhnt. Er stranguliert sich in Michael-Hutchence-Manier mit einem Gürtel am Türgriff und ejakuliert final in Großaufnahme. Selbst im freizügigen europäischen Kino gab es solche Bilder in dieser Form selten zu sehen. Nicht einmal im umstrittenen und ähnlich offenen Berlinale-Gewinner „Intimacy“. Die Szene steht jedoch im Dienste des Films und muss sich nicht den Vorwurf des Voyerismus gefallen lassen. Gleiches gilt für die anderen Nacktaufnahmen, die noch weitere erigierte Geschlechtsteile zu Tage fördern. Mutter Rhonda nutzt die Unerfahrenheit des jungen Shawn schamlos aus, um sich zu befriedigen, während eine Etage tiefer ihre kleine Tochter spielt. Shawn selbst hat seine Moral auch völlig abgelegt. Neben Mutter und Tochter vergnügt er sich beim Dreier mit Peaches und Claude.

    Keiner der Charaktere, die Clark und Lachman als Blick hinter die kleinbürgerliche Fassade offen legen wollen, sammelt große Sympathiewerte. Kaum einer ist frei von Schuld. Sex, Drogen, Alkoholismus sind die dominierenden Werte, an der sich die Protagonisten des Films orientieren. Obwohl die Regisseure auf einen herkömmlichen Spannungsbogen verzichten und lediglich Momentaufnahmen zeigen, kommt keine Langeweile auf, weil das Gesehene eine bedrohliche Intensität ausstrahlt. Diese Welt zwischen Orientierungslosigkeit und Ausgrenzung ist in ihrer Radikalität tatsächlich schockierend. Die Kluft zwischen Eltern und Kindern ist kaum überbrückbar, die Generationen haben hier das Verständnis füreinander verloren. Dabei verzichten Clark und Lachman völlig auf eine Wertung der Handlungen ihrer Figuren. Sie moralisieren nicht. Sie beobachten nur.

    Schauspielerisch bietet „Ken Park“ hervorragende Leistungen. Die Mischung aus erfahrenen Mimen und Laienschauspielern funktioniert perfekt. Aus dem jungen Ensemble besticht vor allem das Quartett James Bullard, Stephen Jasso, James Ransone und Tiffany Limos. Aber auch Wade Andrew Williams glänzt als kaputter Vater, der sein Leben nicht in den Griff bekommt und dem Alkohol und der Gewalt verfallen ist. Als er sich seinem verhassten Sohn betrunken nähert und sich sexuell an ihm vergreifen will, ist dies so bitter wie es nur denkbar ist. Williams liefert in dieser Negativrolle eine ausgezeichnete Performance.

    Dass Clark und Lachman Freude an nackten Körpern haben, verhehlen sie in „Ken Park“ keineswegs. War es wirklich nötig, so weit zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen? Wahrscheinlich schon. Sie wollten alles zeigen, um die Intensität bis an die Schmerzgrenze zu steigern. Und genau das haben sie erreicht. Eine straffere Dramaturgie hätte sicherlich gut getan, aber dieser Konvention verweigerten sich die Independent-Filmemacher konsequent. So ist „Ken Park“ Radikal-Kino in Reinkultur. Inwieweit die Inhalte mit der Realität übereinstimmen, lässt sich schwerlich beurteilen. Sind diese Schicksale Ausnahmen oder schon auf dem Weg zur Regel? Clark und Lachman wollen wachrütteln und versetzen dem Publikum einen Faustschlag in die Magengrube. Wer sich dem gewappnet fühlt, sollte sich „Ken Park“ nicht entgehen lassen.

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