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    Das wilde Schaf
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das wilde Schaf
    Von Robert Cherkowski

    Die frühen Siebziger Jahre waren sowohl in Amerika, wo das New Hollywood Kino gerade seine düstersten Stunden durchmachte, als auch bei den großen Filmnationen Europas eine Zeit der Katerstimmung. Nachdem die Träume der 68er Generation sich als Illusion erwiesen hatten, reflektierte das Junge Kino, was schief gegangen war und fällte eine bittere Bilanz. Während in Italien Regisseure wie Marco Ferreri ebenso frivole wie spöttische Satiren wie „Das große Fressen" oder „Dillinger ist tot" drehte, entstanden in Frankreich hedonistische Sexkomödien wie Bertrand Bliers „Die Ausgebufften". In eine ähnliche, wenn auch etwas spitzfindigere Richtung schlägt auch „Das wilde Schaf". Michel Devilles frivole Farce ist eine jener bitterbösen, überdrehten und doch von enormer Traurigkeit durchzogenen Satiren, wie sie in dieser Form wohl nur das französische Kino hervorbringt. Oberflächlich betrachtet eine lockere Sexkomödie, wird unter der Oberfläche sowohl gegen den verklemmten, lustfeindlichen Mief des Bürgertums als auch gegen hedonistische Weltflucht ausgeteilt. Und egal wohin Deville auch schlägt, er trifft meist ins Schwarze.

    Das Leben des Bankangestellten Nicolas (Jean-Louis Trintignant) ist trostlos und langweilig. Sein Freund, der zynische, gehbehinderte Schriftsteller Claude (Jean-Pierre Cassell) verspottet ihn so manches Mal als Schaf und meint, dass er wie die anderen Schafe vor allem nur versucht, dem Tod durch den Wolf zu entkommen und nie etwas zu wagen, um sein Leben zu verbessern. Das ändert sich, als Nicolas die attraktive junge Marie-Paule (Jane Birkin) kennen lernt. Claudes Ratschlag folgend stürzt sich Nicolas in eine Affäre und ist selbst ganz überrascht über seine Wirkung auf Frauen. Fortan befolgt er alle Ratschläge Claude mit überwältigendem Erfolg. So liegen ihm bald nicht nur betörende Damen wie die Professorengattin Roberte (Romy Schneider) zu Füßen, auch der soziale Aufstieg in die höchsten Gefilde der Gesellschaft ergibt sich wie von selbst. Als Nicolas jedoch auf Claudes Drängen eine Affäre mit dessen Jugendliebe, dem Filmstar Shirley Douglas (Estella Blaine), beginnt, bahnt sich eine Tragödie an.

    Schon in den ersten 20 Minuten reiht Deville eine so dichte Nummernrevue von amourösen Episoden und Situationen ab, dass man fragt, wie sich aus dieser schnellen Folge von Sex, intelligenten Dialogen und Provokationen ein stringenter Film formen soll. Allein das erste Date zwischen Nicolas und Marie-Paule, das nach zärtlichem Geplänkel mit schockierender Konsequenz zu einer äußerst brutalen Balz am Rande der Vergewaltigung ausartet, macht klar, dass dieser Film unter seiner beschwingten Oberfläche fieser und abgründiger sein könnte, als es auf den ersten Blick scheint. Was als Sex-Amoklauf eines Jedermanns beginnt wandelt sich bald zu einer Gesellschaftssatire, die sich als moderne (und ziemlich pervertierte) Version von „Cyrano de Bergerac" entpuppt. Anders als im klassischen Lustspiel jedoch gibt es hier kein erlösendes Happy End mit moralischer Tragweite. In Devilles Welt ist das Glück nicht mit dem Tüchtigen oder denen, die es vielleicht verdient hätten, sondern winkt denen, die dreist und rücksichtslos genug sind, es sich zu nehmen. Auch wenn die omnipräsenten Melodien von Camille Saint-Saëns Leichtigkeit suggerieren, der bissige Humor lächeln lässt: Was hier getrieben wird ist ein vergifteter Spaß.

    Der ohne ein starkes Ensemble leicht aus dem Gleichgewicht hätte geraten können. Doch die Creme de la Creme des französischen Kinos, die sich vor Claude Lecomtes Kamera versammelt hat, findet stets das richtige Maß zwischen Komik und Satire. Im Mittelpunkt steht dabei der wie immer großartige Jean-Louis Trintignant als dröger Bürohengst, der das Büro bald hinter sich lässt und nur noch als Hengst unterwegs ist. Wenn er seinem Chef mit ausgesuchter Höflichkeit mitteilt, dass er fortan keine Zeit mehr zum Arbeiten hat, da er sein Leben darauf verwenden möchte, „im Geld zu schwimmen und mit schönen Frauen zu schlafen" möchte man dem Lebensmut des Playboys in Spe zujubeln. Die zahlreichen Schauspielerinnen von Jane Birkin bis Romy Schneider, die er dabei im Sturm nimmt, verwandeln sich vor seinen Augen von normalen Frauenfiguren in reine Männerfantasien, die nur darauf zu brennen scheinen, Nicolas jeden schlüpfrigen Wunsch zu erfüllen.

    Angesichts solch geballter Schönheit verwundert es nicht, dass Devilles Film oft als Männerphantasie abgetan wurde. Schließlich ist es der gehbehinderte, erfolglose Schriftsteller Claude, den Jean Pierre Cassell als emotional und physisch von Nicolas abhängigen Voyeur und verhinderten Lüstling spielt, der Nicolas als Platzhalter seine Träume ausleben lässt. Ob Deville mit den Abenteuern des vom Glück verfolgten Filous Nicolas nun eine Hymne auf das Leben und die Welt der sinnlichen Genüsse anstimmen wollte, oder nicht doch eher ein spöttischer, doppelter Boden ausgelegt wurde, bleibt bis zum Schluss offen. Es obliegt jedem Zuschauer, sich einen Reim auf die Moral der Geschichte zu machen. Ein großes Vergnügen ist „Das wilde Schaf" in jedem Fall.

    Fazit: Wenn Jean-Louis Trintignant den Wolf aus dem Schafspelz lässt und sich auf eine Tour de Force durch die Betten begibt, ist das nicht nur frivol, klug und höllisch witzig, sondern auch von beißendem Spott. Sowohl Prüderie, als auch leerer Hedonismus bekommen dabei in diesem äußerst vergnüglichen Klassiker des französischen Kinos ihr Fett weg.

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