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    Sweeney Todd
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sweeney Todd
    Von Martin Thoma

    Aus der Stadt Jack the Rippers, aus dem London des 19. Jahrhunderts, stammt die urbane Legende vom mörderischen Barbier Sweeney Todd und seiner unheiligen Allianz mit der kannibalischen Fleischpastetenverkäuferin Mrs. Lovett. Noch 1979 konnte die Musicalversion von Stephen Sondheim ihr Publikum nicht nur schocken, sondern auch anhaltend beeindrucken. „Sweeney Todd“ ist bis heute eines der erfolgreichsten Broadwaymusicals. Hollywoodproduzenten sind manchmal besser als ihr Ruf. Regisseur Tim Burton und seinen Lieblingsdarsteller Johnny Depp mit der Verfilmung dieses Musicals zu beauftragen, war mehr als ein Glücksgriff. Entstanden ist ein Film so nachtschwarz und bitter, wie man es von einem Musical nicht für möglich gehalten hätte. Burton war noch nie so düster (was auch etwas heißt), Depp vielleicht das letzte Mal in Dead Man so hoffnungslos verloren – nur dass er da nicht gesungen hat. Burtons „Sweeney Todd“-Verfilmung ist ein intimes Musical ganz ohne Massenszenen, dafür mit Gesangsdarbietungen von selten gesehener Intensität. Es wird kaum getanzt und wenn doch, dann ist es immer auch ein Tanz mit dem Tod. Der Film erzählt eine einfache Rachegeschichte und eine heillose Liebesgeschichte mit unerbittlicher Konsequenz und ganz schwarzem Humor. Es ist ein nachtschwarzes Horrormärchen und ein tragischer Splatterfilm, bei dem einem das Herz blutet.

    Sweeney Todd (Johnny Depp) hieß früher Benjamin Barker. Er lebte glücklich mit Frau und kleiner Tochter und verdiente sein Einkommen als Barbier. Dann wurde er unschuldig zur Zwangsarbeit nach Australien verbannt. Angetan hat das dem machtlosen Friseur der mächtige Richter Turpin (Alan Rickman, „Harry Potter“). Dessen Motiv war denkbar einfach: Er wollte Benjamin Barkers Frau. 15 Jahre später ist Barker zurück mit neuem Namen im alten Beruf und will Rache. Neben seinem Laden hat Mrs. Lovett (Helena Bonham Carter, Fight Club) ihre Bäckerei, in der sie aus streunenden Katzen und Kakerlaken die schlechtesten Fleischpasteten der Stadt herstellt. Von ihr erfährt er, dass sich seine Frau, nachdem sie von Turpin missbraucht wurde, mit Arsen vergiftet hat und dass seine Tochter von Turpin adoptiert wurde und gefangengehalten wird. Mrs. Lovett liebt Sweeney Todd, aber der wird ganz allein von seinem Bedürfnis nach Rache bestimmt, das sich in einen Hass auf die gesamte Menschheit auswächst. In der Situation, in der sie ihm hilft, seinen ersten Mord zu vertuschen, kommt der praktisch denkenden Frau die Idee mit den Pastetenfüllungen aus Menschenfleisch. Es ist auch ein Weg, ihm näher zu kommen. Damit haben die beiden plötzlich etwas, für das sie sich gemeinsam begeistern können. Es steht jedoch zu befürchten, dass das nicht unbedingt die Basis für eine glückliche Beziehung ist...

    Die Musik komponierte Stephen Sondheim, wie er sagt, inspiriert von der Filmmusik Bernard Herrmanns, der für Psycho und Die Vögel mit Hitchcock zusammenarbeitete (wobei Herrmanns für letztgenannten Film sogar auf herkömmliche Filmmusik zugunsten eines Soundtracks aus elektronisch erzeugten Vogelstimmen verzichtete). Sie gilt als Sondheims Meisterwerk. Zweifellos sind es aufregende Musikstücke mit ungewöhnlichen Dissonanzen und großer emotionaler Kraft. In diesem Film ist die Musik nur eines von vielen glänzenden Teilen, das mit dem großartigen Ganzen eine homogene Verbindung eingeht.

    „There’s a hole in the world like a great black pit that’s filled with people who are filled with shit“, besingt Todd London bei seiner Rückkehr in bitter herausgepresstem Sprechgesang und genauso stellt es der Film dar. Die Stadt ist ein Loch zwischen hohen schwarzen Mauern, wo die Massen in Elend leben. Massentanzszenen sind hier völlig undenkbar. Im Gegenteil: Auf allerengstem Raum zusammengepfercht, wird eine Gruppe blonder Mädchen zum vielköpfigen kreischenden Ungeheuer, das ebenso wenig Gnade kennt wie Sweeney Todd. Hinter den schmucklosen Häuserfassaden sieht man keinen Horizont. Der große Produktionsdesigner Dante Ferretti, der schon mit Fellini, Scorsese und De Palma zusammengearbeitet hat, hat diese klaustrophobische Hölle gestaltet und „Sweeney Todd“ fast zum Schwarz-Weiß-Film gemacht.

    Bleich leuchten die Gesichter der Figuren vor diesem Hintergrund. Farbe bekommt Todd nur, wenn ihm das Blut seiner Opfer aus ihren Kehlen ins Gesicht spritzt. Ein Gesicht, auf dem sich einmal ein Lächeln zeigt, als er seine Rasierklingen besingt – „My Friends“. Mrs. Lovett hat sie 15 Jahre für ihn aufbewahrt, aber was das bedeuten könnte, nimmt er nicht wahr. Die Rasierklingen geben ihm, der machtlos war und daran zerbrochen ist, die absolute Macht über Leben und Tod. Dieses Gefühl und ein ständig im Innern kochender Zorn bestimmen Todd und werden von Johnny Depp erschreckend gut zum Ausdruck gebracht.

    Im finsteren Loch London ist sein Frisiersalon eine eigene Welt. Er liegt unter dem Dach des Hauses und hat ein riesiges Fenster. Es ist der einzige Ort in Sweeney Todds London, an dem man den Himmel sieht. Doch es ist ein Geisterort. Das letzte bisschen Helligkeit in seinem Leben nimmt Todd aus der Vergangenheit, die zerstört ist. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen, das Licht, das in die Barbierstube fällt fahl. Todds Gesicht wirkt hier noch bleicher als zwischen den schwarzen Häusermauern.

    Es gibt eine Szene im Film, in der sich der Horizont noch weiter öffnet. Sie gehört Mrs. Lovett. Es ist ein Picknick vor den Toren der Stadt mit Todd und Toby (Edward Sanders gibt ein großartiges Spielfilmdebüt), einem Waisenkind, das sie gewissermaßen adoptiert hat, nachdem der Mann, der den Jungen davor als seinen Assistenten ausgebeutet hatte (Sacha Baron Cohen spielt souverän gegen sein Borat-Image an), in ihrer Fleischpastete gelandet war. Mrs. Lovett träumt sich in dieser Szene in ihre Wunschvorstellung von einem glücklichen Familienleben, in den Traum davon, dass diese drei versehrten Menschen glücklich über die Seebrücken der reichen englischen Strandbäder flanieren könnten. Die plötzlich knallig hellen Farben ihres Wunschtraums sind ein Schock für die Zuschauer, deren Augen sich zu diesem Zeitpunkt des Films gerade an die Dunkelheit gewöhnt haben. Die Dunkelheit wird so fast körperlich präsent, wenn die Farbigkeit des Traums wieder so schnell verschwindet, wie sie gekommen war und nicht mehr auftaucht. „Sweeney Todd“ ist ein Film der ganz harten Kontraste, die mit einer Wucht und Können eingesetzt werden, wie man es selten gesehen hat.

    Das Jack-the-Ripper-London des Films ist auch ein Charles-Dickens-London. Knallhart, fast beiläufig, mit trockenem Humor, aber spürbarer Empathie präsentiert Burton eine Gesellschaft, in der das Leben, der vielen, die nichts haben, auch nichts gilt. Vor diesem Hintergrund ist der Handlungsstrang mit dem von Mrs. Lovett adoptierten Waisenkind wie alle Geschichte in diesem Film eine Liebesgeschichte auf Leben und Tod. Für Mrs. Lovett steht Toby für ihren Traum von einer glücklichen Existenz zusammen mit Todd. Der dankbare Toby liebt Mrs. Lovett und vertraut ihr vorbehaltlos. Das Dreieck Todd – Mrs. Lovett – Toby macht den emotionalen Kern von Burtons „Sweeney Todd“-Adaption aus. Die Geschichte ist rührend, aber Burton zeigt sie in einer bodenständigen Weise weit jenseits von Kitsch, und sie wird präsize und konsequent zu Ende erzählt, ohne Kompromisse, das heißt ohne falsche versöhnliche Töne.

    In „Sweeney Todd“ wird wenig getanzt. Allein das sagt viel über die Außergewöhnlichkeit des Musicals aus. Mrs. Lovett und Todd tanzen, aber der Tod tanzt mit. Die beiden berühren sich nur, wo sie ihren Hass teilen. Ihr Tanz hat eine eigene bittere Komik. Man kann mit ihnen lachen, wenn sie auf einmal in gemeinsamer Glücksseligkeit darüber fantasieren, welche ihrer weniger sympathischen Mitmenschen sich besonders gut für die Füllung von Pasteten eignen und weiß doch, dass diese Figuren eine Konstellation darstellen, in der solche Fantasien wahr werden. Das gehört zu Burtons ganz großen Stärken: Er erzählt ein Horrormärchen – ein Musical zumal -, die Figuren darin sind übertrieben, stilisiert und vereinfacht, aber dabei sind sie wahrhaftig. Anders als in seinem ebenfalls sehr düsteren Sleepy Hollow verzichtet Burton in „Sweeney Todd“ auf ironisches Augenzwinkern. Für seine Fans mag das enttäuschend klingen, aber nur bis sie „Sweeney Todd“ gesehen haben. Der Film bleibt durch und durch ein Burton-Film, ist aber so intensiv, dass er ohne doppelten Boden funktioniert.

    Spätestens ab der ersten Tanzszene mit Mrs. Lovett und Todd steht fest, dass es keine bessere Besetzung der Hauptrollen als mit Johnny Depp und Helena Bonham Carter geben konnte. Wie alle Schauspieler in diesem Musical sind sie keine ausgebildeten Sänger. Was an technischer Vollendung fehlt, wird durch Ausdrucksstärke ausgeglichen. In den intimen Duetten, die dieses Musical charakterisieren, zahlt sich das aus. Depp und Bonham Carter gelingt es, in Mimik, Tanz und Gesang ihr ganzes schauspielerisches Können einzubringen. Wer Vorurteile gegen Musicals hat und erwartet, dass hier sportliche Tanz- und Gesangsleistungen mit ungenauen und prätentiösen schauspielerischen Gesten bezahlt würden, wird eindrucksvoll eines besseren belehrt. Wie es Helena Bonham Carter schafft, gerade in ihren Gesangsdarbietungen gleichzeitig den ganz eigenen Witz ihrer Figur und ihre Tragik darzustellen, ist eine Klasse für sich. Von Johnny Depp lässt sich außerdem sagen, dass er eine aufregende Stimme hat.

    Ebenso meisterhaft arbeitet Alan Rickman die Verletzlichkeit seiner Figur heraus. Turpin ist so durch und durch böse – und auch das stellt Rickman großartig dar -, dass man sie sich nur als Karikatur denken will, von Rickman gespielt, bleibt er ein Mensch. Todd und Turpin treffen zwei Mal aufeinander und singen ein Duett über schöne Frauen. Das sind Gänsehautszenen. Vor allem weil sich Bösewicht und Antiheld innerlich nahe sind. Turpins Thema „We all deserve to die“ ist auch Todds Thema geworden, der es mit einer Brutalität umsetzt, die die Turpins in den Schatten stellt.

    Fazit: „Sweeney Todd” ist nicht irgend eines dieser ganz ansehnlichen Musicals mit Starbesetzung, die Hollywood alle Jahre wieder produziert und ins Rennen um die Oscars für die beste Filmmusik und für die beste Ausstattung schickt. „Sweeney Todd“ ist eine brillante Kombination von Dingen, von denen man nicht geglaubt hätte, dass sie zusammen passen.  Der Film hätte viele Oscars verdient, braucht aber keinen einzigen davon, weil er ohnehin bleiben wird.

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