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    Die fetten Jahre sind vorbei
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Die fetten Jahre sind vorbei
    Von Jürgen Armbruster

    Was ist der beste deutschsprachige Film des Jahres 2004? Ist es vielleicht Fatih Akins radikale Liebesgeschichte „Gegen die Wand“, die auf der diesjährigen Berlinale zumindest nicht zu unrecht mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde? Oder vielleicht Oliver Hirschbiegels hoch gelobtes Historien-Drama „Der Untergang“ über die letzten Tage Hitlers und des NS-Regimes? Ein Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden kann. Und mit Hans Weingartners „Die fetten Jahre sind vorbei“ meldet kurz vor Ende des Kinojahres ein weiterer Aspirant berechtigte Ansprüche an. Die Vorführungen des Films bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurden jedenfalls mit stehenden Ovationen gefeiert.

    Von Jule (Julia Jentsch) könnten sich viele aus der heutigen Mittzwanziger-Generation eigentlich ein kleines Stückchen abschneiden. Sie ist politisch und sozial engagiert, intelligent und attraktiv. Wäre da nicht ihr immenser Schuldenberg. Diesen hat sie jedoch nicht mutwillig angesammelt. Ihre Geschichte ist fast schon tragischer Natur. Drei Monate mit der KfZ-Versicherung im Verzug, eine kurze Unaufmerksamkeit beim Fahren, ein Topmanager mit seiner Luxuskarosse und schon steht Jula das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Nun muss sie peu à peu einen sechsstelligen Euro-Betrag abstottern. Dies führt fast schon zwangsläufig zur Räumungsklage. Sie muss ihre schöne Wohnung verlassen und ist gezwungen, zu ihrem Freund Peter (Stipe Erceg) und seinem Mitbewohner Jan (Daniel Brühl) zu ziehen. Was Jule nicht weiß: Peter und Jan führen ein Doppelleben. Nachts brechen sie in Luxusvillen ein. Allerdings sind Sie keine einfachen Diebe. Sie verrücken lediglich die Möbel und hinterlassen Nachrichten wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ oder „Sie haben zuviel Geld – Die Erziehungsberechtigten“. Sie möchten, dass sich die High Society von ihnen beobachtet fühlt und somit nicht mehr dermaßen ungetrübt im Luxus schwelgen kann, wie es vor dem Einbruch der Fall war.

    Als Peter verreist, kommt eine Kette unheilvoller Ereignisse ins rollen. Jan hilft Jule beim Renovieren der zu verlassenden Wohnung. Als die beiden abends gemütlichen zusammen sitzen, das eine oder andere Gläschen trinken und auch noch etwas Rauchbares ins Spiel kommt, gesteht Jan ihr die ganze Geschichte. Er fährt mit ihr durchs Luxusviertel und zeigt ihr all die Villen, in die Peter und er schon eingestiegen sind. Ihr Weg führt sie dabei am Domizil von Justus Hardenberg (Burghart Klaußner) vorbei, dem Unfallgegner von Jules folgenschwerem Crash. Da das Haus leer erscheint, überredet sie Jan, dort einzusteigen. Sie möchte unbedingt sehen, wie der Mann lebt, der ihr das ganze Leben verbaut und ruiniert hat. Widerwillig gibt Jan ihrem Flehen nach. Doch es geht etwas schief. Jule verliert beim Einbruch ihr Handy und die beiden sind gezwungen, einen Tag später nochmals den Einstieg zu wagen. In dem Moment kommt jedoch Hardenberg nach Hause, erkennt Jule und die Situation eskaliert. Sie entführen Hardenberg, weihen Peter in ihre missliche Lage ein und nisten sich in einer abgeschiedenen Hütte in den Bergen ein…

    Der Werdegang von Regisseur und Drehbuchautor Hans Weingartner sucht in der Branche seinesgleichen. Vom Kanuführer zum Skilehrer. Vom Skilehrer zum Physikstudium. Vom Physikstudium zur Neurochirurgie. Und von der Neurochirurgie schließlich zum Film. Etwas Vergleichbares dürfte sich schwerlich finden lassen. Doch das Talent des Österreichers wurde schon bei seinem Filmdebüt „Das weiße Rauschen“ im Jahr 2001 deutlich, für das er prompt mit dem renommierten Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. Doch was er nun mit „Die fetten Jahre sind vorbei“ abliefert, dürfte für ihn der Ritterschlag sein, der ihm in der Branche so manche Tür öffnet.

    Die Geschichte, die sich Weingartner gemeinsam mit seiner Co-Drehbuchautorin Katharina Held ausgedacht hat, ist in den Grundzügen sehr simpel gehalten, doch es stecken sehr viele faszinierende Details in ihr. Der Film muss inhaltlich eigentlich zweigeteilt werden. Im ersten Teil werden die Charaktere eingeführt. Der Zuschauer erfährt, warum Jan, Peter und Jule nun mal so sind, wie sie sind. Warum sie tun, was sie tun. Es werden viele Gespräche geführt, die politische Einstellung der drei jungen Protagonisten wird deutlich und der Boden für den zweiten Teil wird geebnet. Mit der Entführung Hardenbergs und der Ankunft in der Berghütte nimmt der Film dann so richtig Fahrt auf. Nach und nach stellt sich heraus, dass die Entführer eigentlich gar nicht all zu viel von ihrem Opfer trennt. Es wird deutlich, dass es so etwas wie schwarz oder weiß eigentlich gar nicht gibt. Nur unheimliche viele Facetten zwischen den Extremen. Es entwickelt sich sogar eine gewisse Sympathie zwischen Entführern und Entführtem. Aber auch die sich anbahnende Romanze zwischen Jan und Jule sorgt für jede Menge Zündstoff. Die Dialoge wirken durch die Bank wie aus dem Leben gegriffen, sind messerscharf und vielleicht eben deshalb so brillant. Auch auf ein weichgespültes Happy End verzichtet Weingartner glücklicherweise. Die überraschende Schlusspointe lässt sich nur mit einem Wort beschreiben: konsequent.

    Bei einen Film wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ kommt der Besetzung der Charaktere eine besondere Bedeutung zu. Und hier reiht sich ein Glücksgriff an den nächsten. Daniel Brühl („Good Bye, Lenin!“, „Was nützt die Liebe in Gedanken“, „Schule“) beweist, dass in seiner Alterklasse eigentlich kein Weg an ihm vorbei führt. Einmal mehr gelingt es ihm, sein Spiel um neue Facetten zu erweitern, ohne dass sich beim Zuschauer das Gefühl einstellt, sein Gesicht mittlerweile einmal zu oft gesehen zu haben. Die beiden großen Entdeckungen des Films sind die bis dato relativ unbekannten Stipe Erceg und Julia Jentsch. Vielleicht könnte sich Erceg noch ein wenig verbessern, wenn es darum geht, mit anderen Charakteren Dialoge zu führen. Doch schieben wir das an dieser Stelle einfach auf die Sprachbarriere, die der gebürtige Kroate noch nicht zu 100 Prozent durchbrochen zu haben scheint. Der leichte Akzent dringt gelegentlich durch. Doch dies fällt wirklich nur dann ins Gewicht, wenn man sich mit der Lupe auf die Suche nach dem Haar in der Suppe macht. Viel wichtiger ist ohnehin Ercegs jetzt schon enorm nuanciertes Spiel. Jede Geste, jede Mimik sitzt perfekt. Sein markantes Gesicht ist ungewöhnlich ausdrucksstark. Bitte den Namen unbedingt im Hinterkopf behalten. Von ihm wird in Zukunft noch einiges zu hören zu sein. Julia Jentsch entspricht eigentlich keinem gängigen Schönheitsideal, doch trotzdem will einem nach „Die fetten Jahre sind vorbei“ ihr Gesicht einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Diese wundervollen Augen, die mit einem Blick das gesamte innere Seelenleben der Jule wiederspiegeln, sind allein das Eintrittsgeld wert. Selten waren in einem Film drei Jungdarsteller zu sehen, die sich gegenseitig dermaßen perfekt ergänzt haben. Ein Rädchen greift ins andere. Abgerundet wird das hervorragende Ensemble durch den alten Haudegen Burghart Klaußner („Good Bye, Lenin!“, „Crazy“, „23“, „Rossini“), der eine gewohnt routinierte Vorstellung abliefert. Sein Theaterhintergrund kommt ihm in einem eher ruhigen Film wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ sicherlich entgegen.

    Hans Weingartner hat sich wie schon zuvor bei „Das weiße Rauschen“ dazu entschlossen, den Film komplett mit einer lichtempfindlichen, digitalen Videokamera zu drehen. Dies bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich. So kann beispielsweise zumeist auf die Ausleuchtung der Szenen verzichtet werden, was es ermöglicht, den Film mit einer extrem kleinen Stammcrew zu drehen und eine gewisse Zeitersparnis mit sich bringt. Ein kleiner Transporter mit Equipment, mehr wird nicht benötigt. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es auch möglich, viel mehr Material zu drehen. Auch die Proben hat Weingartner stets mit aufgenommen. Mit einer normalen Aufnahmetechnik wäre dies aus Kostengründen einfach nicht möglich gewesen. Das mitunter recht grobkörnige Ergebnis hat viele Ähnlichkeiten mit Dokumentarfilmen, was dem Film jedoch entgegen kommt. Dadurch wirkt einfach alles realer und greifbarer. Nicht so steril und austauschbar wie bei vielen Massenproduktionen von der Stange. Ein besonderes Lob verdient Weingartner noch für sein Händchen bei der Auswahl des Soundtracks. Eine der stärksten Szenen des Films ist es, als die Situation in der Hütte sich in einer Sackgasse verfahren hat, ohne voran zu kommen. Minutenlang wird geschwiegen, nur Blicke und Gesten stehen im Mittelpunkt, als Jeff Buckleys Remake von Leonard Cohens famosem Schmacht-Song „Hallelujah“ eingespielt wird. Selten hat ein Song dermaßen perfekt zur Stimmung eines Films in der entsprechenden Situation gepasst. Und dererlei Szenen gibt es einige…

    Als Inspiration für „Die fetten Jahre sind vorbei“ diente Weingartner die Geschichte eines Pariser Arztes, der zwanzig Jahre lang in Villen einbrach und die Beute dieser Zeit in seinem Keller hortete, ohne je ein einziges Stück davon zu verkaufen. Eine geniale Idee, drei talentierte Jungdarsteller, einen alten Hasen und eine DV-Kamera. Mehr benötigt Weingartner nicht. Er enthält es sich auch nicht vor, eine politische Aussage in den Film mit einzubauen. Allerdings lässt er den Holzhammer stecken und verzichtet auf eine heuchlerische Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger. Sein Vorgehen ist subtiler und daher auch ein Vielfaches effizienter. Wo sind die Schwächen? Nun ja, vielleicht könnte die Einführung etwas straffer inszeniert sein. Aber das war's dann auch schon. Um auf die Frage vom Einstieg zurück zu kommen: Ist „Die fetten Jahre sind vorbei“ der bester deutsche Film des Jahres? Nun, das ist bekanntlich Geschmackssache. Manche werden ja sagen, andere vielleicht doch eher nein. Aber der Intelligenteste deutsche Film des Jahres, das ist "Die fetten Jahre sind vorbei" mit Sicherheit!

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