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    Aaltra
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Aaltra
    Von Jörn Schulz

    Sich über Behinderte und ihre Schwierigkeiten im Alltag zu amüsieren, ist gemein, bösartig und verachtenswert. Der einzige Anlass, bei dem ungestraft gelacht werden darf: „Aaltra“. Das Rollstuhlfahrer-Road-Movie lädt dazu ein, sich über das Handicap zweier verfeindeter Nachbarn zu belustigen, die aufgrund ihrer verschrobenen Art alles andere als das Mitleid des Zuschauers erregen. Mit durchdacht eingesetzter Situationskomik, dem Charme einer europäischen Low-Budget-Produktion und hinreißend minimalistischen Bildern überzeugt der Film und markiert gleichzeitig das fulminante Debüt eines neuen Filmverleihs.

    Ein winzig kleines Provinznest im Norden Frankreichs: Der Landarbeiter (Gustave Kevern) und der Büroangestellte (Benoît Delépine), der von daheim aus arbeitet, leben Tür an Tür, hassen sich jedoch wie die Pest. Ständig schikanieren sich die beiden und versuchen dem anderen, das Leben zur Hölle zu machen. Eines Tages kommt es zur offenen Auseinandersetzung und zur Prügelei auf dem Feld und am Traktor der Marke „Aaltra“ des Landarbeiters. Im Eifer des Gefechts betätigt einer der beiden den Hebel des Traktoranhängers, woraufhin dieser sich senkt und die Raufhähne unter sich begräbt. Glück im Unglück: Sie überleben den Unfall und wachen kurze Zeit später im Krankenhaus auf. Allerdings sind beide Männer von diesem Tage an querschnittsgelähmt und müssen ihr restliches Dasein im Rollstuhl fristen. Als der Landarbeiter später entdeckt, dass ein Sicherheitsmangel schuld am Unfall hat, entscheidet er sich, nach Finnland zu reisen, um vom Hersteller des Traktors eine Entschädigung zu fordern. Gleich zu Beginn seiner Reise trifft er auf den Büroangestellten, der sich auf den Weg gemacht hat, um einen Traum wahr werden zu lassen: die Motocross-Legende Stefan Everts live zu erleben. Gezwungenermaßen werden die beiden erneut zu Nachbarn und beschließen, gemeinsam in ihren Rollstühlen durch Frankreich, Belgien, die Niederlande und Deutschland bis nach Finnland zu trampen, um der Firma „Aaltra“ auf den Zahn zu fühlen. Dabei geraten sie durch ihre Behinderung in zahlreiche prekäre Situationen, bei der sich keiner das Lachen verkneifen kann.

    „Aaltra“ ist keine Komödie, die den Zuschauer von der ersten Szene an mit Lachsalven befeuert. Kinogänger, die auf Ulkfilme der Marke „Verrückt nach Mary“ stehen, bei der die Behinderung einer Person (Marys Bruder) ausgebeutet wird, werden bei „Aaltra“ definitiv nicht auf ihre Kosten kommen. Feinfühlig – und zu Beginn etwas langsam wirkend – wird die Hassbeziehung zwischen den beiden Männern entwickelt und mit der Rauferei auf die Spitze getrieben. Erst von dem Zeitpunkt an, ab dem die beiden im Rollstuhl sitzen, wird dem Zuschauer zunächst ein leichtes Schmunzeln gegönnt, was sich im weiteren Verlauf des Films zu lautem Gelächter steigert. Sehr überlegt und pointiert ist der Einsatz von Situationskomik, äußerst originell wirken die misslichen Lagen, in welche die beiden Rollstuhlfahrer im Verlauf ihrer Reise geraten. So schlafen sie beispielsweise am Strand ein, nachdem sie sich betrunken haben und merken dabei nicht, wie die Flut den Strand erobert. Als sie aufwachen, ist es zu spät: Das Wasser steht ihnen bereits bis zum Hals.

    Charmant ist an dem Rollstuhl-Road-Movie zudem, dass es das Handicap der beiden Männer nicht ausnützt, sondern die Gags vorrangig aus dem teilweise recht rabiaten Verhalten der beiden Reisenden und deren Folgen generiert. So werden sie von einem Familienvater mitten im Wald am „Highway to Hell“ ausgesetzt, nachdem sie dessen Gastfreundschaft schamlos ausgenutzt haben. Einen Nichtbehinderten hätte der Familienvater sicher einfach hinausgeworfen; die Rollstuhlfahrer fährt er soweit vom Haus weg, wie nur möglich, damit sie ja nicht wiederkommen. Jeder erhält die Strafe, die ihm angemessen ist. Gelacht werden darf übrigens nicht nur über die Rollstuhlfahrer selbst, sondern auch über die Personen, denen sie begegnen. So wird der Zuschauer letztlich dazu angehalten, über seinen eigenen, meist mitleidsvollen Umgang mit behinderten Menschen zu lachen.

    Grandios und sofort ins Auge stehend ist die überaus grobkörnige Schwarz-Weiß-Optik, die dem Film ein unglaublich sympathisches Aussehen verpasst und den Low-Budget-Charakter der Produktion unterstreicht. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Hugues Poulain (Kamera) und Laurent Galvez (Szenenbild), die für die einprägsam schönen Bildern verantwortlich sind, welche teilweise an Vorzeigestücke aus einem Handbuch für Bildkomposition erinnern. An ein paar Stellen wirkt das Material zwar etwas überstrahlt, wodurch die Untertitel – der Film kommt im Original mit deutschen Untertiteln ins Kino – leicht in Mitleidenschaft gezogen werden und schwer zu entziffern sind, doch der Handlung und dem Wortwitz tut dies keinen Abbruch. Auch wenn das Ende des Films nicht unbedingt der stärkste Teil ist, so wartet es aber dennoch mit einem weiteren Filmhöhepunkt auf: dem Auftritt des finnischen Ausnahmeregisseurs Aki Kaurismäki (Der Mann ohne Vergangenheit), der in Sachen Coolness kaum zu überbieten ist.

    „Aaltra“ – das ist nicht nur das beachtenswerte Spielfilmdebüt des Regieduos Benoît Delépine & Gustave Kevern, die auch gleichzeitig die Hauptdarsteller des Films sind; „Aaltra“ – das ist auch das überzeugende Debüt von Weltecho, einem neuen deutschen Filmverleih mit Sitz in Dresden. Der Verleih, der aus der Dresdner Filmproduktionsfirma „Filmkombinat“ (Schultze Gets The Blues) hervorgegangen ist, hat sich zum Ziel gesetzt, kleine internationale Festivalperlen zu veröffentlichen. Nach dieser schillernden Perle darf man auf weiteres aus dem Verleihprogramm gespannt sein.

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