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    Wenn die Flut kommt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wenn die Flut kommt
    Von Martin Thoma

    „Wenn die Flut kommt“ erzählt eine ganz einfache Geschichte. Doch die einfachsten Geschichten sind immer die schwersten. Es ist eine Liebesgeschichte und ein Road Movie. Es gibt drei Charaktere: zwei traurige Clowns und eine traurige Landschaft: Nordfrankreich. Auf den ersten Blick ist keiner der drei attraktiv. In Wahrheit sind sie schön. Und nur ein bisschen traurig.

    Irène (Yolande Moreau) ist Schauspielerin, die mit ihrer One-Woman-Show „Sale Affaire“ durch die nordfranzösische Provinz tingelt. Mann und Kind hat sie zuhause gelassen. Auf der Bühne spielt sie eine Frau auf der Suche nach der großen Liebe: eine Mörderin, einen traurigen weiblichen Clown mit einer schrecklichen Maske. Jeden Abend holt Irène einen anderen Mann als ihren „Liebhaber“ auf die Bühne. Eines Abends Dries (Wim Willaert). Dries ist Lebenskünstler - man könnte auch sagen, ein trauriger Clown im echten Leben – und ebenfalls ein Schauspieler. Könnte man sagen. Denn Dries schlüpft bei Faschingsumzügen in das Innere riesiger Pappmachéfiguren, die er auch selbst anfertigt. Dries reist Irène auf ihrer Tour durch Nordfrankreich hinterher. Er bleibt nicht nur auf der Bühne ihr Liebhaber.

    Soweit das bei einem Film überhaupt nur möglich ist, ist „Wenn die Flut kommt“ das Projekt einer einzelnen Frau. Yolande Moreau spielt die Hauptrolle, hat zusammen mit Gilles Porte das Drehbuch geschrieben und Regie geführt und in ihrem Debüt als Filmemacherin ihre eigenen Karriere als Schauspielerin verarbeitet. Die begann nämlich für die international durch ihre einprägsame Nebenrolle in Die fabelhafte Welt der Amelie bekannt gewordene Schauspielerin, als sie mit eben jenem Ein-Frau-Theaterstück „Sale Affaire“ durch Frankreich tourte. Dennoch kreist „Wenn die Flut kommt“ nicht eitel um das Ego der Regisseurin. Im Gegenteil: Moreau ist eine Liebesgeschichte von universeller Kraft und Gültigkeit gelungen. Den César 2005 bekam sie folgerichtig gleich als beste Hauptdarstellerin und für den besten Debütfilm.

    Die Liebesgeschichte zwischen den beiden weder schönen noch jungen auch nicht außergewöhnlichen, aber eigenwilligen Protagonisten entwickelt sich langsam. Das ist richtig und wichtig, weil es um Personen geht, die sich nicht nur selbst einander, sondern denen sich vor allem auch die Zuschauer erst langsam nähern müssen. Insbesondere Dries ist ein äußerst komischer Kauz: ein bisschen aufdringlich, ein bisschen schüchtern, überraschend aufbrausend und irrational handelnd, sicher ein gesellschaftlicher Außenseiter, aber mit einem großen Freundeskreis, ein bodenständiger Aussteiger und jemand mit einem eigentümlichen Sinn für Humor. Zu Beginn könnte man ihn für ein klein wenig gaga halten und erkennt erst langsam, dass er mit all seinen Macken alles andere ist als das, obwohl er die Sympathien der Zuschauer genauso wie die Irènes immer wieder auf die Probe stellt. Ganz klar sorgt die Figur des Dries dafür, dass dieser Film nie langweilig wird.

    Ebenso langsam nähert sich der Film der Gegend, in der er spielt. Wie zu den eigenwillig-gewöhnlichen Figuren entwickelt man auch zum eigentümlich-gewöhnlichen Nordfrankreich eine große Zuneigung. Es ist auf eine sehr starke Art präsent, nicht nur in den wunderbar unspektakulären Landschaftsaufnahmen vor allem gegen Ende des Films. Die Darstellung der Tournee zwischen Kulturcenter, Grundschule und Bierzelt mit Misswahl und dem jeweils ganz unterschiedlichen Publikum gehört dazu. Dazu gehören natürlich auch die Faschingsumzüge, genauso die ungewöhnliche Dialektmischung (die für Nicht-Französischsprecher natürlich weniger interessant ist) und der Soundtrack mit dem titelgebenden Lied „Quand la mer monte“. Nicht zuletzt gehören dazu die Nebenfiguren. Sie haben alle nur kurze Auftritte, weil sich der Film ganz auf sein Liebespaar konzentriert. Aber jede dieser Nebenrollen ist perfekt besetzt, häufig äußerst komisch und immer fernab vom Klischee. Die Darstellung der Provinz fühlt sich in diesem Film wesentlich echter an, als in vielen anderen Filmen, die sich ebenfalls um solch eine Art von Authentizität bemühen (zum Beispiel die der schwedischen Provinz in Zurück nach Dalarna).

    „Wenn die Flut kommt“ ist ein sehr sehenswerter Film, der eine einfache Liebesgeschichte gründlich gegen den Hollywood-Strich bürstet. Das fängt damit an, dass seine Protagonisten weder jung noch schön sind, geht weiter damit, dass auf jede moralische Bewertung des Ehebruchs der Hauptfigur verzichtet wird und hört nicht dabei auf, dass sich der Film einem schnellen Erzählrhythmus konsequent widersetzt. Nebenbei fängt er den Charakter der nordfranzösischen Landschaft in bezaubernden Bildern ein, beeindruckt durch leisen Humor, lebendige Nebenfiguren und überraschende surreale Momente.

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