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    Sebastiane
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sebastiane
    Von Christoph Petersen

    Ein hübscher Jüngling, nackt an einen Pfahl gebunden, von Pfeilen durchbohrt. Diese Szene, die den Tod des Heiligen Sebastiane darstellt, ist eines der zentralen und meist aufgegriffenen Motive der Renaissance. Sebastiane, ein römischer Soldat, wurde zur Zeit der letzten großen Christenverfolgung von seinen Kameraden wegen seines Glaubens umgebracht und avancierte so zum christlichen Märtyrer. Diesen Ausschnitt christlicher Mythologie nahm sich der britische Avantgarde-Regisseur Derek Jarman (Caravaggio, Blue) 1976 zum Anlass für sein Spielfilmdebüt „Sebastiane“ (Co-Regie: Paul Humfress), das mittlerweile als Klassiker des Queer Cinema gilt. Aus dem klassischen Märtyrer wird in Jarmans Version, die sich englisch untertitelter lateinischer Dialoge bedient, eine moderne Schwulenikone. Doch das ist nicht das einzige Radikale. Auch stilistisch sticht der Film, der einer Wiederauferstehung der Renaissancekunst gleichkommt, heraus. Daher ist es ein großes Glück und man darf sich beim Jarman-Hausverleih Salzgeber bedanken, dass dieses Meisterwerk der Avantgarde nun doch noch – wenn auch mit 32-jähriger Verspätung – in die deutschen Kinos kommt.

    303 nach Christus: Sebastiane (Leonardo Treviglio), der Chef der Palastwache, ist einer der persönlichen Lieblinge des Kaisers Diokletian (Robert Medley). Im Palast brechen immer wieder Brände aus, für die die Christen verantwortlich gemacht werden. Als einer der angeblichen Brandstifter hingerichtet werden soll, geht Sebastiane, selbst ein Christ, dazwischen. Damit fällt auch er beim Kaiser in Ungnade und wird in einen isolierten Außenposten am Ende der Welt strafversetzt. Hier bekommt er es mit dem sadistischen Hauptmann Severus (Barney James) zu tun. Severus lässt Sebastiane auspeitschen, weil dieser sich aus seiner christlich-pazifistischen Überzeugung heraus weigert, mit dem Schwert zu kämpfen. Als Sebastiane die Chance bekommt, zu fliehen, lässt er sie ungenutzt verstreichen. Er begreift die Folterungen als göttliche Prüfungen. Doch Severus handelt gar nicht aus Hass auf die Christen, sondern vielmehr aus Eifersucht. Er ist scharf auf Sebastiane, kommt aber einfach nicht zum Zug…

    Auf der einen Seite sind die Ähnlichkeiten zwischen „Sebastiane“ und Mel Gibsons Die Passion Christi frappierend, auf der anderen könnten die Werke jedoch kaum unterschiedlicher sein. Beide Filme handeln von den letzten Tagen eines christlichen Märtyrers. Doch während Gibson auf den Kreuzgang Jesu mit den Augen eines religiösen Fundamentalisten blickt, unterläuft Jarman geschickt die klassische Auslegung der mythologischen Sage, indem er Sebastiane nicht an seiner Religion, sondern an Eifersüchteleien und Machtspielchen krepieren lässt. Jarman begreift und sieht die Geschichte mit dem Verstand und den Augen eines Künstlers, er nährt sich – trotz genauer Recherche – weniger aus der überlieferten Story selbst, als vielmehr aus den großen „Sebastiane“-Bildern der Renaissance-Maler (etwa von Sandro Botticelli oder Amico Aspertini). Eine weitere Gemeinsamkeit der Werke von Jarman und Gibson ist die Verwendung einer ausgestorbenen Sprache. Doch wo Gibson dieses Stilmittel von vielen Seiten als Pseudo-Authentizität vorgehalten wurde, trifft dieser Vorwurf auf Jarmans Film auf keinen Fall zu. Der Brite verwendet Latein in einer alltagsprachlichen, fast schon legeren Form. Es lässt sich halt auch auf Latein „Come on motherfucker!“ sagen. Diese Mischung von ausgestorbener Sprache und einem modernen Umgangston macht „Sebastiane“ trotz des fremden, historischen Settings unerwartet leicht greifbar.

    Trotzdem bleibt Derek Jarman ein Vertreter der britischen Avantgarde. Und das sieht man bereits der ersten Szene deutlich an. Während des 20-jährigen Thronbestehens von Kaiser Diokletian gibt es eine Vorführung. Ein am ganzen Körper weiß geschminkter Mann, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, der einer Vagina nachempfunden ist, führt einen Ausdruckstanz vor. Plötzlich kommen einige Männer hinzu, die ihn mit übergroßen Fake-Penissen bedrängen. Der Tanz endet damit, dass die neu Hinzugekommenen den am Boden liegenden Vagina-Mann mit ihren falschen Riesengemächten vollsamen. Moderner kann man einen Historienfilm gar nicht beginnen. Auch später herrscht ein homoerotischer Ton absolut vor. Es gibt etwa eine minutenlange Zeitlupensequenz zweier badender Männer. Die perfekten Adonis-Körper prallen immer wieder zusammen, es gibt Küsse und verzehrende Blicke, Wassertropfen fliegen wie bei einem sich schüttelnden Pudel überall herum. Doch auch in diesen eindeutig motivierten Szenen ist Jarmans Inszenierung so artifiziell, so klar an den Renaissance-Vorbildern orientiert, dass es einem Offenbarungseid des Kunstverstandes gleichkäme, hier von Camp oder gar Schmuddelkino zu sprechen.

    Fazit: Vielschichtiger und reicher an Anspielungen und Bezügen geht kaum mehr – „Sebastiane“ ist ein Kultklassiker des homoerotischen Films, eine Verbeugung vor den Meistern der Renaissance, eine kontroverse Neuinterpretation christlicher Mythologie und eine treffende Auseinandersetzung mit dem gefährlichen Zusammenspiel von Eifersucht, Obsession und Macht. Mit seinem Regiedebüt vereint Derek Jarman großes Kino und große Kunst in perfekter Harmonie.

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