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    Paris, Paris
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Paris, Paris
    Von Jens Hamp

    Paris, eine Stadt für Verliebte, Künstler und die Bohème. Hier gehen selbst die extravagantesten Träume in Erfüllung. Mittellose Dichter erobern das Herz begehrter Kurtisanen (Moulin Rouge), rehäugige Engel verzaubern mit ihrer Herzensgüte (Die fabelhafte Welt der Amélie) und selbst eine kleine Ratte kann ein Fünf-Sterne-Koch werden (Ratatouille). Nunmehr möchte Regisseur Christophe Barratier auch einer Gruppe von arbeitslosen Varietekünstlern beim Erfüllen ihres Traumes helfen und zugleich an den Erfolg seines Oscar-nominierten Kinodebüts „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ anschließen. Die Bretter, die die Welt für „Paris, Paris – Monsieur Pigoil auf dem Weg zum Glück“ bedeuten, erweisen sich als wunderbar französische Moulin Rouge-Variante, die mit liebenswerten Charakteren und Chanson-Ohrwürmern die kalte Jahreszeit erwärmt.

    Neujahr 1936: Das Pariser Varietetheater Chansonia muss aufgrund mannshoher Überschuldung seine Pforten schließen. Pigoil (Gérard Jugnot, Boudu), Jacky (Kad Merad, Willkommen bei den Sch’tis) und Milou (Clovis Cornillac, Eden Log) landen perspektivlos auf der Straße. Erst als Pigoil auch noch das Sorgerecht für seinen Sohn Jojo (Maxence Perrin) verliert, beschließen die drei, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie wollen das Chansonia wiedereröffnen und mit selbst komponierten Revuenummern ihren Lebensunterhalt finanzieren. Allerdings sind sie hierfür auf den Gangsterboss Galapiat (Bernard-Pierre Donnadieu) als Geldgeber angewiesen. Wirklich kompliziert wird die Situation, als die wunderhübsche Douce (Nora Arnezeder) vorspricht. Diese verdreht nämlich nicht nur Milou, sondern auch Galapiat den Kopf. Und für die Liebe geht der Mafioso über Leichen…

    „Paris, Paris“ ist ein Schmaus für die Sinne, der mit stilsicheren Bauten und Kostümen das klassische Bild der 1930er heraufbeschwört. Dabei schrammen die kopfsteingepflasterten Straßenkulissen nur haarscharf am überdosierten Kitsch vorbei, wenn die Straßen friedlich mit Schnee bedeckt sind oder im Hintergrund der Eiffelturm im Abendrot glitzert. Im Gegenzug – und das wiegt alle Anflüge von Kitsch mehr als auf – ist es aber einfach atemberaubend, wie Clint Eastwoods Stammkameramann Tom Stern (Mystic River, Million Dollar Baby, Der fremde Sohn) dieses Szenario in vor Schönheit strotzende Bilder hüllt. Wenn Pignon erstmalig das Theater begeht, folgt ihm die Kamera auf Schritt und Tritt durch das gesamte Gebäude, ohne einen Schnitt schlängelt sie sich durch das Publikum, das begeistert einer Silvesterrevue zusieht, und umkreist schließlich hinter der Bühne zaghaft die Gespräche der Hauptfiguren. Ebenso elegant sind die Außenaufnahmen, die das Treiben des Straßenzuges aus der Luft beobachten, oder die Momente, in denen die Kamera leichtfüßig die Künstler auf der Bühne umschmiegt.

    Es verwundert nicht, dass die Kamera liebevoll um die Darsteller tanzt, wenn auf der knarrenden Bühne die feengleiche Nora Arnezeder steht. Bereits bei ihrer Ankunft im Chansonia verzaubert die blutjunge Aktrice mit ihrem zurückhaltenden Charme. Sobald sie ihren ersten Chanson verschüchtert auf der Bühne singt, liegt man ihr endgültig zu Füßen. Voller Leidenschaft trällert sie „Loin De Paname“, eine Ode an die französische Metropole, und spielt sich so mit Leichtigkeit und natürlichem Elan ins Gedächtnis. Im Theater von „Paris, Paris“ drängt sich keiner der Darsteller in den Vordergrund. Es ist das Ensemble, das herrlich harmoniert und den kleinen Pariser Mikrokosmos so sehens- und liebenswert macht. Gérard Jugnot ist als vom Leben gebeutelte Hauptfigur nach seiner Paraderolle in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ erneut herzensgut und sympathisch. Den großmundigen Rebellen belebt Clovis Cornillac charmant und Kad Merad gibt mit seinen schrecklich-farbenfrohen Sakkos sowie stets misslungenen Imitationen den vordergründigen Witzlieferanten, der dennoch genügend Tiefe erlangt. Besonders erfreulich ist, Pierre Richard nach Jahren der Abstinenz endlich wieder auf deutschen Leinwänden sehen zu können. Seine Interpretation des Komponisten, der seit 20 Jahren sein Haus nicht verlassen hat, weckt immer wieder dezente Erinnerungen an seine tollpatschigen Komödien der Siebziger und Achtziger („Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“, „Die Flüchtigen“).

    Schwachpunkt der wunderbaren Revuenummer ist das Drehbuch. Die geschichtlichen Hintergründe (politisches Chaos und Arbeiterstreiks) schneidet Christophe Barratier nur an. Diese oberflächliche Herangehensweise ist aber noch verschmerzbar. Ärgerlicher ist dagegen, dass die Story mit unzähligen Problemen überfrachtet ist: Im Prolog wird Pigoil der örtlichen Polizei vorgeführt. Ein Mord hat sich ereignet und der Bühnenarbeiter ist der Hauptverdächtige. Wie es zu dieser Vernehmung gekommen ist, erzählt der glatzköpfige Pigoil in einer Rückblende. Die eigentliche Tötung wird dabei vollends in den Hintergrund gedrängt. Im Gegenzug werden dafür die verschiedensten Schwierigkeiten der Protagonisten aufgerollt. Aufgrund der Arbeitslosigkeit möchte Pigoils Frau den Kontakt zwischen Vater und Sohn unterbinden. Jacky, der wenig amüsante Komiker, träumt von einer großen Bühne und verrät dafür seine Freunde. Der gewerkschaftlich engagierte Milou verliebt sich trotz aller Zweifel und Widerspenstigkeiten in die entzückende Douce und beschwört so den „Romeo und Julia“-artigen Zwist mit dem Gangsterboss herauf. Diese weitläufigen Probleme werden schlussendlich nur oberflächlich aufgelöst. Insbesondere die Unstimmigkeiten zwischen Pigoil und seiner Frau hätten allein genug Stoff für einen eigenen Film geboten.

    Diese zu breitgefächerte und daher auch etwas zu lange Geschichte verzeiht man Christophe Barratier rückblickend jedoch nur zu gerne. Mit leichter Hand inszeniert der Franzose zahllose Momente, die vor Magie flirren. Ohne zuviel zu verraten – schließlich wird bereits in der Exposition eine Tötung in den Raum gestellt – sei hier die Beerdigung erwähnt, die mit ihrer unvergleichlich-französischen Verschrobenheit zu Tränen rührt. Oder die große Abschlussgala, die einfallsreich mit alten Requisiten spielt und zudem eine wunderbare Ohrwurm-Revuenummer beinhaltet. Überhaupt bieten die Kompositionen Reinhardt Wagners, der im Film eine kleine Nebenrolle als Klavierspieler hat, einen herrlichen Querschnitt durch die klassische Chansonkultur. Neben Nora Arnezeder – deren natürliche Brillanz man nicht oft genug erwähnen kann – besticht vor allem Kad Merad mit einer brillanten Chansonstimme.

    Entrez, entrez, mesdames, messieurs!

    C'est le grand théâtre de Paris!

    - Mireille Mathieu (Hinter den Kulissen von Paris)

    Unter dem Strich drängt Christophe Barratier sicherlich zu viele Figuren und ihre Probleme auf die kleine Bühne des Chansonias. Aber bereits nach wenigen Minuten fühlt man sich im Kreis der arbeitslosen Künstler derartig wohl, dass die eigentliche Geschichte völlig in Vergessenheit gerät. Mit wunderbarer Leichtfüßigkeit, famosen Bildern und umwerfenden Chansons spielt sich die französische Revuenummer ins Herz der Zuschauer. Zwar ist dies alles nicht so dekadent und famos wie im großen Bruder Moulin Rouge – dennoch erwärmt „Paris, Paris“ mit seinem bodenständigen Charme das Herz und lässt als Sahnehäubchen den kommenden Stern am französischen Filmhimmel, Nora Arnezeder, erstmalig erstrahlen. Daher bleibt abschließend nur zu wünschen, dass sich das Märchen des Films auch in der Realität wiederholt und „die Leute in Scharen kommen, um diesen Arbeitslosen zu applaudieren, die eine Revue machten aus ihrem Leben.“

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