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    Breakfast on Pluto
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Breakfast on Pluto
    Von Christoph Petersen

    Eine sexy Frau geht die Straße entlang, Bauarbeiter pfeifen ihr hinterher. Soweit könnte die Eröffnungssequenz von „Breakfast On Pluto“ noch als Cola-Werbespot durchgehen. Aber so „normal“ bleibt die Welt in Neil Jordans brillanter Verfilmung des gleichnamigen Romans von Patrick McCabe aus dem Jahr 1998 nicht lange: Die Frau ist in Wirklichkeit ein Mann und Kitten, wie er/sie sich nennt, reagiert auf das Gepfeife auch nicht etwa pikiert, sondern entgegnet es mit einer ziemlich offensiv vorgetragenen Sex-Offerte. In über dreißig Kapiteln erzählt Jordan die Geschichte des Transvestiten Patrick „Kitten“ Braden, der 1958 in dem erzkatholischen, nordirischen Städtchen Tyreelin zur Welt kam, und der fortan stetig darum kämpfte, er selbst sein zu dürfen.

    Als Patrick (Cillian Murphy, Das Maedchen mit dem Perlenohrring) als Teenager in den Kummerkasten seiner katholischen Schule einen Zettel schmeißt, auf dem er eine Frage nach den besten Adressen für eine Geschlechtsumwandlung formuliert hat, ist er bei seinen Lehrern und seiner Adoptivmutter (Ruth McCabe) endgültig untendurch. Kurzerhand entflieht er dem engstirnigen Städtchen und schließt sich dem Sänger Billy Rock (Gavin Friday), der an Patrick „Kitten“ einen Narren gefressen hat, und seiner Band an. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, Kitten als Squaw in die Gruppe zu integrieren, bringt Billy Kitten in einem alten Wohnwagen unter. Hier versteckt er aber auch Waffen für den nordirischen Untergrund – als Kittens Jugendfreund Laurence (Seamus Reilly) bei einem Bombenanschlag ums Leben kommt, schmeißt sie die Waffen aus Wut über den sinnlosen Krieg einfach ins Wasser. Das bringt Billy eine Menge Ärger ein und Kitten findet sich auf der Straße wieder. Ihr nächstes Ziel ist London: Hierhin soll ihre Mutter, die Kitten als Baby ausgesetzt hat, gegangen sein. Aber die Suche nach ihrer Mutter stellt sich als erheblich schwieriger heraus, als sie sich das zunächst vorgestellt hat…

    Kittens Abenteuer in der Metropole London, wo sie eines Morgens in einem Vogelnest aufwacht, um fortan als Womble für kleine Kinder zu singen und zu tanzen, oder wo sie als Assistentin eines Zauberers (Stephen Rea, V wie Vendetta) als Hypnoseopfer herhalten muss, gleiten oftmals ins Märchenhafte ab, bekommen durch die stetige Durchmischung mit harter Realität in Form von IRA-Anschlägen und Kittens ganz persönlicher Odyssey auf der Suche nach ihrer Mutter und sich selbst aber einen wunderbar zwiespältigen Charakter. So funktioniert „Breakfast On Pluto“ sowohl als intimes, unheimlich bewegendes Porträt eines Außenseiters, aber genauso gut als stimmungsvoll-authentisches 70th-Piece oder subversives Polit-Kino.

    Eine solch ungewöhnliche Geschichte bedarf auch einer ungewöhnlichen Inszenierung – und die ist Jordan unheimlich gut gelungen. Wenn in einer der ersten Szenen zwei untertitelte Rotkehlchen!!! das Geschehen kommentieren, ist man als Zuschauer doch zumindest kurzzeitig verwundert. Aber der Film ist voll mit solch kleinen, verrückten Einfällen, die genau so besonders und sympathisch sind wie seine Hauptfigur. Obwohl durch Jordans unendlich scheinenden Ideenreichtum jede Szene mit ganz eigenen, immer wieder überraschenden Bildkompositionen aufwarten kann, sind trotzdem keine Brüche zu erkennen, alles scheint wie aus einem wunderbaren Guss. Hat man sich erst einmal die über vierzig Songs (u.a. „Rock You Baby“ von George McCrae, „Sugar Baby Love“ von The Rubettes oder „Honey“ von Bobby Goldsboro) für seinen Film ausgesucht, die der Soundtrack von „Breakfast on Pluto“ umspannt, kann man eigentlich schon gar nicht mehr viel falsch machen. Aber mit welcher Genialität Jordan die zeitgenössische Musik in seine Handlung, die Atmosphäre und die 70th-Stimmung einzupassen versteht, erlaubt nur ungläubiges Staunen.

    Eine weitere Meisterleistung ist Neil Jordan auch mit dem Einbau von historischen Geschehnissen (vor allem den Terroranschlägen im Irland und London der 70er Jahre) in seine ansonsten sehr persönliche Geschichte gelungen. Wo im überschätzten Forrest Gump noch zeitgeschichtliche Einschübe für kitschigen Patriotismus (Forrest, der ohne jegliches Hinterfragen den konservativen Werten hinterher rennt, wird zum All-American-Hero hochstilisiert, während seine Freundin Jenny, die für die verschiedenen Gegenkulturen der Dekaden steht, mit Abtreibungen und Drogensucht bestraft wird) genutzt wurden, sind sie in „Breakfast on Pluto“ wesentlich intelligenter, subtiler und dadurch um einiges wirkungsvoller in die Story integriert. Immer wenn man als Zuschauer droht, sich in Kittens Traumwelt zu wohl zu fühlen, wird man vom nächsten Terroranschlag, der einen wie ein richtig harter Schlag in die Magengrube trifft, wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Genau so muss man die große Geschichte in seinen kleinen Geschichten unterbringen.

    Dass der dreißigjährige Schauspieler Cillian Murphy ein großes Talent ist, hat er schon mit seinen Auftritten als Scarecrow in Christopher Nolans Batman Begins, als eiskalter Terrorist in Wes Cravens Red Eye oder als kämpferischer Überlebender in Danny Boyles 28 Days Later bewiesen – immer konnte er unabhängig von der Qualität des Films oder der Größe der Rolle einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber das alles hätte trotzdem nicht gereicht, um seine grandiose Performance als verträumt sympathischer Transvestit Kitten vorauszuahnen. Weil er nicht nur das arme Opfer ist, sondern seiner Rolle auch teilweise egoistische oder weltfremde Züge verleiht, und trotzdem bis zum Schluss eine unglaubliche Liebenswürdigkeit und menschliche Wärme ausstrahlt, übertrifft er sogar die Leistungen der schwulen Cowboys Heath Ledger und Jake Gyllenhaal in Brokeback Mountain oder des schwulen Intellektuellen Philip Seymour Hoffman in Capote. Das alles macht „Breakfast On Pluto“ zu einem gleichzeitig anspruchsvollen und leichtfüßigen, zu einem filmisch brillanten und wunderbar erzählten Meisterwerk und dem Independent-Highlight 2006.

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