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    An American Crime
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    An American Crime
    Von Björn Helbig

    Es gibt Verbrechen, die so grausam sind, dass sie nicht wahr sein können. Dass sie nicht wahr sein dürften. Wie im Falle der jungen Sylvia Marie Likens, die nunmehr vor mehr als 40 Jahren von ihrer Pflegemutter und deren Kindern zu Tode gefoltert wurde. Das Werk einer Psychopathenfamilie? Wohl kaum. Weite Teile der Nachbarschaft waren an den Misshandlungen beteiligt. Großen Mut zeigt Regisseur und Autor Tommy O'Haver, der sich an die Geschichte wagt und versucht, den Ursachen für die Grausamkeiten filmisch nachzuspüren. Doch auch wenn sich O'Haver des Schicksals mit viel Respekt für die Personen und einem größtmöglichen Maß an Sorgfalt bei seinen Recherchen nähert, scheitert er letztendlich daran, einen Sinn hinter diesem amerikanischen Verbrechen zu finden.

    1965, Illinois: Die 16-jährige Sylvia Marie Likens (Ellen Page) und ihre jüngere, gehbehinderte Schwester Jennifer (Hayley McFarland) werden von ihren Eltern (Nick Searcy, Romy Rosemont) – Schausteller, die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt reisen – zu Gertrude Baniszewski (Cathrine Keener) gegeben. Eigentlich kennen die Linkens die Frau kaum, doch die allein erziehende Mutter von sieben Kindern macht einen sympathischen Eindruck. Für 20 Dollar Salär die Woche ziehen Sylvia und Jennifer bei Gertrude ein. Anfangs verstehen sich die Geschwister mit den Kindern des Hauses sehr gut. Vor allem Sylvia freundet sich schnell mit Paula (Ari Graynor), Gertrudes ältester Tochter, an. Doch nach und nach verschlechtert sich das Leben für die Likens-Schwestern. Vor allem Sylvia ist die Leidtragende. Ein Streit zwischen Paula und Sylvia, Intrigen zwischen den Kindern, Gertrudes zunehmende Geldsorgen –Tropfen für Tropfen füllt sich das Fass bis zum Überlaufen. Bis Gertrude Sylvia schließlich von der Schule nimmt und in den Keller des Hauses sperrt…

    Wie es weiter geht, dürfte den meisten bekannt sein. Sylvia Marie Likens wurde mehrere Wochen in dem Keller gefangen gehalten und von den Baniszewskis gefoltert. Hinzu kamen die Nachbarskinder, für die es ganz normal wurde, regelmäßig nach der Schule vorbei zu kommen und sich an den Misshandlungen zu beteiligen. Zunächst darf man wohl dankbar sein, dass der Film in den Händen von Tommy O'Haver gelandet ist, zu dessen Verdiensten sicherlich die behutsame Art gehört, die versucht, ohne jeden Voyeurismus das Geschehen nachzuzeichnen. Den Zuschauer schonend, wird nicht jede Szene bis zum Ende ausformuliert. Ob sich diese Rücksicht wirklich mit dem Ernst der Thematik verträgt, sei einmal dahin gestellt. Der 1968 in Indiana, USA, geborene Regisseur, Autor und Schauspieler konzentriert sich jedenfalls auf die Ausgangsbedingungen, von denen die Ereignisse ihren Anfang nahmen. Der Zuschauer erfährt viel über die finanzielle Misere, aus der heraus Gertrude Baniszewski versucht, ihre Familie zu führen, man lernt sie und ihre von Abhängigkeit geprägte Beziehung zu dem wesentlich jüngeren Dennis (James Franco) kennen und bekommt Einblicke in die gruppendynamischen Prozesse, die im Hause Baniszewski nach Einzug der Likens-Schwestern ihren schicksalhaften Anfang nehmen. Doch so viel Zeit O'Haver auch auf die Vorgeschichte legt – so richtig zu fassen bekommt er die Ursachen, die schließlich zu dem Verbrechen führten, nicht. Er deutet vieles an, das Wegschauen der Beteiligten, die sozialen Probleme und vieles mehr, doch letztendlich tappt auch er im Dunkeln.

    Ein großes Plus ist die Besetzung des Films. Ellen Page hat in letzter Zeit immer wieder gezeigt, dass sie bereit ist, in ihren Rollen bis an die Grenzen zu gehen. In Hard Candy, The Tracy Fragments oder auch Juno lotet sie – mal hart, mal herzlich – verschiedene Extrembereiche aus und stellt jedes Mal ihre weit über dem Durchschnitt liegende Einsatzbereitschaft unter Beweis. Auch bei „An American Crime“. Das was Page hier bringt, geht weit über das hinaus, was der Durchschnittschauspieler zu zeigen bereit ist. Aber auch Catherine Keener (Being John Malkovich, Into The Wild) nimmt mit ihrer Rolle der Psychopathin Gertrude Baniszewski eine schwere Last auf sich. Im Nachhinein ist es nicht verwunderlich, dass Keener sehr lange zögerte, bevor sie für die Rolle zusagte. Auch die für diesen Film sehr wichtigen Nebenrollen sind gut besetzt. Die zahlreichen Darsteller in der zweiten Reihe versuchen möglichst viel aus ihren Figuren herauszuholen. Aufgrund der vielen Charaktere bleibt allen natürlich nur wenig – in Einzelfällen zu wenig – Zeit ihre Figuren zu entwickeln. Am besten gelingt das noch Scout Taylor-Compton (Halloween), deren Zwist mit Sylvia vordergründig maßgeblich für die Eskalation verantwortlich ist. Aber auch Evan Peters als Nachbarskind Ricky, der sich in Sylvia verliebt hat und trotzdem letzten Endes Handlanger von Gertrude wird, macht seine Sache gut und verdeutlicht exemplarisch den Zwiespalt, in dem sich die Mitläufer befunden haben (müssen?).

    Optisch weiß „An American Crime“ zu gefallen. Das Illinois der 1960er Jahre wirkt authentisch. Als nicht so geschickt erweist sich der Aufbau des Films. Die Geschichte ist eingerahmt von der Gerichtsverhandlung, bei der der Fall Sylvia Marie Likens aufgerollt wird. In kurzen Passagen nehmen die Beteiligten durch ihre Aussagen vieles der Handlung vorweg, was sich negativ auf die Spannung der zurückliegenden Ereignisse auswirkt. Und außer, dass alle Delinquenten eigentlich gar nicht mehr so genau verstehen, was in dem Baniszewski-Keller eigentlich vorgefallen ist, erfährt der Zuschauer wenig von Substanz. Aber auch innerhalb der eigentlichen Story gibt es gelegentlich weniger überzeugende Momente. „An American Crime“ mag auf einer wahren Geschichte beruhen und sich nahezu eins zu eins an den wirklichen Geschehnissen orientieren – plausibel werden die Handlungen der Figuren nicht immer. Man möchte Sylvia oder ihre Schwester Jennifer manchmal schütteln und rufen „Flieht endlich“, doch die beiden verharren, mit der sich sinnbildlich stetig verengenden Schlinge um den Hals. Hier hätte O'Haver etwas mehr Mühe darauf verwenden können, das Verhalten der Figuren zu plausibilisieren.

    Letzten Endes gelingt es dem Regisseur weder hundertprozentig den Schrecken der Ereignisse zu verdeutlichen, noch das Handeln der Personen plausibel zu machen. Es wird nicht auf ganzer Line klar, was er mit seinem Ansatz bezweckt. Er deutet vieles an, zeichnet detailreich die Vorgeschichte der Verbrechen nach – das Wegschauen der Beteiligten, gruppendynamische Prozesse –, doch schlussendlich gibt es mehr Fragen als Antworten. Die Ratlosigkeit des Filmemachers spiegelt sich eins zu eins im Film wider. Dass zunächst Gertrudes Kinder mitmischen, dass sie von Zuschauern zu Tätern werden, und schließlich die Nachbarskinder ebenfalls in den Keller kommen und sich an den Folterungen beteiligen, geschieht in „An American Crime“ recht unvermittelt. Dabei wäre es gerade dort sehr spannend gewesen, die Entwicklung nachzuzeichnen. So bleibt einem schließlich nicht viel mehr als das Wissen über den menschlichen Hang, Autoritäten zu gehorchen und zu gefallen, wie es Stanley Milgram in seinem berühmten Experiment nachgewiesen wurde, um sich zumindest auf Teilstücke des Tathergangs einen Reim zu machen. Doch auch dieser Erklärungsversuch hilft am Ende nicht weiter: Man sitzt zutiefst verstört da und fragt sich, wie so etwas möglich sein kann. Man will nicht glauben, was man gesehen hat und tröstet sich mit dem Gedanken, dass alles weit weg und vor langer Zeit geschah. Doch halt. Was war denn in Brandenburg im Juli 2002? Dort wurde der 17-jährige Marinus im 450-Seelen-Dorf Potzlow von einigen Dorfjungen ermordet. Und auch dort lässt sich die äußerst brutale Tat nicht auf den Schultern einiger weniger abladen, sondern muss, wie Tamara Milosevics Dokumentarfilm Zur falschen Zeit am falschen Ort oder Andres Veiels Theaterfilm Der Kick eindrucksvoll zeigen, in einem größeren Kontext gesehen werden.

    Die Geschichte wurde übrigens schon mehrfach künstlerisch verarbeitet. Die vielleicht schockierendste Umsetzung, „The Girl Next Door“, stammt aus der Feder des amerikanischen Horrorautors Jack Ketchum. Der Roman wurde von Gregory Wilson ebenfalls verfilmt (deutscher Titel: Jack Ketchum's Evil).

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