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    Das Piano
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Das Piano
    Von Lars Lachmann

    „Das Piano“ wurde mit zahlreichen Auszeichnungen – unter anderem der Goldenen Palme während der Filmfestspiele in Cannes sowie drei Oscars – versehen, von denen jeweils einer Holly Hunter und Anna Paquin als beste Haupt- bzw. Nebendarstellerin zufielen. Regisseurin Jane Campion, der die Trophäe für das beste Original-Drehbuch zukam, ist mit diesem einzigartigen Drama ein Klassiker der Filmgeschichte gelungen, der in den Punkten Intensität, symbolische Aussagekraft und atmosphärische Dichte Maßstäbe setzt. Einen unverzichtbaren Beitrag leistete nicht zuletzt Michael Nyman, der die wunderbare Musik zum Film komponierte.

    Der Kiel eines langen Ruderbootes schiebt sich an der Oberfläche des türkisblauen Meeres entlang und wird von der Brandung an den Strand gespült. Die letzten Meter werden die Frau und ihr Kind von den Männern getragen, damit ihre langen Kleider nicht von den auflaufenden Wogen durchnässt werden. Wie wahllos angeschwemmtes Strandgut wirken Mutter und Tochter zwischen den hier und dort abgestellten Kisten mit ihren Habseligkeiten an dieser fremden Küste am anderen Ende der Welt. Der Ort: die Küste Neuseelands zur Zeit des 19. Jahrhunderts. Aber wer ist diese Frau und was führt sie an diesen ungastlichen Ort?

    Die zerbrechlich wirkende Frau, deren Ausstrahlung jedoch zugleich eine unermessliche innere Stärke und Entschlossenheit erahnen lässt, heißt Ada (Holly Hunter). Ihr Vater hat für sie von der schottischen Heimat aus ihre Eheschließung mit dem neuseeländischen Siedler und Farmer Alisdair Stewart (Sam Neill) arrangiert. Ihre neunjährige uneheliche Tochter Flora (Anna Paquin) begleitet sie auf dieser Reise ins Ungewisse. Als Stewart die beiden samt ihrer Habe mit einem Trupp angemieteter Maoris vom Strand abholen will, erblickt er seine künftige Braut zum ersten Mal – und verfällt in diesem ersten Moment nicht gerade in Enthusiasmus beim Anblick Adas, die auf ihn streng und eigen wirkt, was ihre im viktorianischen Stil gehaltene Kleidung noch unterstreicht. Hinzu kommt noch die besondere Eigenart der seltsamen Frau, dass sie offensichtlich stumm ist und sich zur Verständigung entweder der Zeichensprache bedient, bei der Flora als Dolmetscherin einspringt, oder sich schriftlich mit Hilfe von kleinen Notizzetteln mitteilt. Tatsächlich hat Ada, wie der Zuschauer gleich am Anfang der Geschichte erfährt, seit ihrem sechsten Lebensjahr kein Wort mehr gesprochen. Wenngleich ihre genauen Beweggründe für diese Verweigerung im Dunkeln bleiben, so erzählt uns Ada mit ihrer inneren Stimme, stehe hinter diesem Entschluss ein unbeugsamer und kompromissloser Wille, welcher ihr zu Eigen ist. Ihr Vater habe einmal gesagt, würde dieser Wille eines Tages ihrem Herzen den Befehl erteilen, still zu stehen, so würde dies unweigerlich ihren Tod herbeiführen.

    Trotz ihres Verzichts auf das gesprochene Wort fühlt sich Ada nicht wirklich stumm, denn sie hat ja ihr Piano, auf welchem sie ihre Stimmungen und Gefühle sehr viel deutlicher und treffender als mit Hilfe der menschlichen Sprache zum Ausdruck zu bringen vermag. Dementsprechend groß ist ihre Entrüstung, als Stewart beschließt, das unhandliche und sperrige Instrument am Strand zurückzulassen, da es sich auf dem Weg zur Farm durch die unwegsame Vegetation des Dschungels nur als unnötiges Hindernis herausstellen würde. Am Ziel angelangt, äußert Stewards Nachbar George Baines (Harvey Keitel), ein Engländer, der die Lebensweise der Maori angenommen hat, Interesse an dem Piano. Gegen ein kleines Stück Land überlässt ihm Stewart das gute Stück, und dieser lässt es sogleich vom Strand in seine Hütte schaffen – was Ada umso mehr erzürnt, zudem diese Abmachung über ihren Kopf hinweg getroffen wurde. Mehr noch als am Piano selbst hat Baines jedoch Gefallen an Ada gefunden und verlangt für das überlassene Grundstück zusätzlich, von Stewarts Frau im Spielen des Instruments unterwiesen zu werden. Dieser wiederum macht er ein Angebot, sich ihr ursprüngliches Eigentum zurück zu verdienen, indem sie während der Klavierstunden seine körperlichen Zuneigungen erwidert. Auf diese Weise entsteht eine Dreiecksbeziehung, aus welcher die anschließende Handlung ihre eindrucksvolle Dynamik bezieht.

    Einen großen Beitrag zur Intensität von Jane Campions meisterhaftem Drama „Das Piano“ leisten die sehr unterschiedlichen Charaktere, die von den jeweiligen Darstellern zudem noch absolut glaubhaft und virtuos mit Leben erfüllt werden. Die undankbarste Rolle fällt hierbei wohl Sam Neill mit der Figur des Alasdair Stewart zu. Mit seinem Pragmatismus und seinem Bestreben, die Wildnis des Dschungels zu zähmen und nutzbar zu machen, verkörpert er das Paradebeispiel des westlichen Kolonialherren, der mit seiner „Zivilisation“ die „Barbarei“ zu überwinden sucht. Gegenüber Ada legt er entsprechend eine vergleichbare Haltung an den Tag, indem er sie gewissermaßen als sein rechtmäßig erworbenes Eigentum betrachtet, welches sich ihm gegenüber gefügig zeigen sollte. Dass es ihm von Anfang an nicht gelingt, eine intime Beziehung zu seiner Frau aufzubauen, liegt in seinem mit dieser Einstellung einhergehenden mangelnden Einfühlungsvermögen begründet.

    George Baines hingegen lässt sich als diametraler Gegensatz zu Stewarts Charakter begreifen. Er hat sich von der westlichen Zivilisation abgekehrt und der naturverbundenen Lebensauffassung der Maoris zugewandt. Ihm bedeutet der Besitz eines Grundstücks nicht so viel wie die Aussicht oder die Hoffnung darauf, in Ada eine perfekte Partnerin zu finden. Er scheint ihre Wünsche genau zu kennen und versucht, ihr zu ihrem Glück zu verhelfen. Aus diesem Grund gelangt er auch zur Erkenntnis, dass ihre Liebe für ihn keinen Wert hat, wenn sie nicht aus freiem Willen heraus zu ihm gelangt – konsequenterweise gibt er ihr schließlich ihr Piano zurück, ohne eine weitere Gegenleistung zu fordern.

    Trotz ihres Schweigens ist Ada die ausdrucksstärkste und zugleich faszinierendste Figur des Dramas. Ihr gelingt es, die Gegensätze ihrer einerseits starken inneren Gefühlswelt und andererseits deren Kontrolle nach außen hin in ihrer Persönlichkeit zu vereinen. Ihren unbändigen Willen erlebt sie dabei sowohl als etwas ihr Eigenes, was sie auszeichnet, als auch etwas Fremdes, dem sie sich zu unterwerfen hat. Dient ihr das Piano zunächst als Katalysator, um ihr Inneres mit der Außenwelt in Einklang zu bringen, ermöglicht ihr die Beziehung zu Baines schließlich, ihre Gefühle und Wünsche nicht nur unmittelbar auszudrücken, sondern auch zu leben.

    Nicht minder vielschichtig ist Adas Tochter Flora, die sich – zumeist auf kindliche, spielerische Art und Weise – oftmals von spontanen Impulsen leiten lässt, ohne die Konsequenzen ihres Handelns zu überdenken. Sie erinnert auf ihre Weise beinahe ein wenig an jene ambivalenten feenartigen Geschöpfe aus Shakespeares „Mittsommernachtstraum“. Zu Anfang bildet sie mit ihrer Mutter eine Art Symbiose: Sie dient ihr als Übersetzerin und Sprachrohr und vermag wie keine andere Figur an ihrem unmittelbaren Empfindungen Teil zu haben. In einigen Szenen zeigt sich dies im Detail anhand von nahezu synchronen gestischen Bewegungen von Mutter und Tochter. Dies ändert sich, als Ada beginnt, Gefühle für Baines zu entwickeln. Flora genießt von nun an nicht mehr deren ungeteilte Aufmerksamkeit. In einem Anfall von kindlichem Trotz löst sie daraufhin eine Kette von Ereignissen aus, die gravierende Folgen nach sich zieht.

    Die Filmemacherin und Ethnologin Jane Campion ließ sich im Hinblick auf das zeitliche Setting des Dramas vor allem von der zeitgenössischen Literatur des 19. Jahrhunderts inspirieren. Dementsprechend verweist „Das Piano“ stellenweise auch auf die Tradition der gothic novel – am deutlichsten lassen sich vielleicht Parallelen zu Emily Brontës „Wuthering Heights“ aufzeigen. Weiterhin war es Campion sehr daran gelegen, die fremde, urwüchsige Welt des Dschungels möglichst authentisch darzustellen. Wenn sich die weißen Siedler mühselig ihren Weg über den schlammigen Boden und durch die üppige Vegetation bahnen, wirken diese schon seltsam deplatziert an diesem Ort der Wildnis. Nicht zu vergessen die symbolische Kraft, die diese Bilder implizieren: In einem psychoanalytischen Kontext verweisen sie sowohl auf Sexualität als auch die unbewusste Gefühlswelt, die innerhalb des viktorianischen Weltbilds jeweils negative Konnotationen aufweisen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu betrachten, wie sich im Zusammenspiel der Figuren die Grenze zwischen dem, was wir als abstoßend und was als anziehend empfinden, oft als sehr dünn oder fließend herausstellt.

    Als besonderes Bonbon und „Spiel im Spiel“ wird während des Films von den Siedlern eine Bühnenadaption des Märchens vom grausamen und despotischen „König Blaubart“ aufgeführt. Die Inszenierung fügt sich dabei nahtlos in die Thematik des Dramas ein und dient gleichzeitig gewissermaßen als foreshadowing im Hinblick auf den späteren Handlungsverlauf. Hierbei ist es interessant zu beobachten, dass die Vorführung von den anwesenden Maoris als etwas sehr viel Wirklicheres aufgefasst zu werden scheint, als die späteren Ereignisse selbst. Darüber hinaus hat auch die zweite Hälfte des Dramas bis zu den letzten Minuten hin noch einiges an unvorhergesehenen und überraschenden Wendungen zu bieten.

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