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    Der Tiger von New York
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Tiger von New York
    Von Jonas Reinartz

    Ein Mann steht zerknirscht am Bahnsteig und wartet. Den Grund, warum sich der Protagonist aus „Der Tiger von New York“ hierher begibt, erfährt der Zuschauer zunächst nicht. Eines ist jedoch klar: Wenn er an einem Bahnhof verzweifelt ausharrt, dann ist die Unheil verheißende Frau ganz sicher nicht weit. Damit wäre man dann auch gleich bei der Frage, warum die ersten beiden Filme von Stanley Kubrick nach seinem eigentlichen Erstling „Fear And Desire“, den der Regisseur später verleugnete, also „Der Tiger von New York“ und Die Rechnung ging nicht auf auf den ersten Blick recht konventionelle Film Noirs sind. Ein simpler Verweis auf Kostengründe reicht da nicht aus, stattdessen scheint es das Potential des Pulp-Genres für Dramatik und Extremsituationen zu sein, das den angehenden Meisterregisseur überzeugt hat. Die in Rückblenden aufgefächerte Geschichte eines erfolglosen Boxers, der sich in eine Tänzerin verliebt, deren krimineller Boss ihr nachstellt, ist in der Tat wenig überraschend und eher schlichter Natur. Faszinierend allerdings gerät die Mise-en-scène des auch als Kameramann fungierenden Kubricks. Sichtlich ist er noch dabei, einen individuellen Stil zu finden und oszilliert zwischen kompositorischer Strenge und einem Cinéma-vérité-artigem Handkamera-Stil, was gerade Liebhaber seiner späteren Klassiker wie 2001 - Odyssee im Weltraum oder Shining, denen der frühe Kubrick noch nicht vertraut ist, interessieren dürfte.

    Einst galt Davey Gordon (Jamie Smith) als viel versprechender Boxsportler, doch in den entscheidenden Kämpfen versagt er. Folglich kommt er nur mühsam über die Runden und haust einsam in einem kleinen New Yorker Appartement. Aus seinem Fenster beobachtet er gelegentlich seine attraktive Nachbarin Gloria (Irene Kane), die ein ähnlich abgeschiedenes Leben führt. In den Abendstunden arbeitet sie als Tänzerin in einem Nachtclub des zwielichtigen Gangsters Vincent Rapallo (Frank Silvera). Nachdem Davey wieder einmal besiegt worden ist, kann ihn selbst der Anruf seines Onkels, der die Niederlage im Fernsehen verfolgt hat und seinem Neffen mithilfe einiger erholsamer Wochen auf dem Land wieder auf die Sprünge helfen möchte, nicht wirklich aufmuntern. Mitten in der Nacht wird Davey plötzlich vom markerschütternden Schrei einer Frau aus dem Schlaf gerissen. Es ist Gloria, die von dem erheblich älteren Rapallo vergewaltigt zu werden droht. Glücklicherweise kann Davey Schlimmeres verhindern. Am nächsten Morgen erzählt die verschlossene Frau ihre traurige Vorgeschichte und langsam kommen sich die beiden näher. Doch Rapallo hat noch ein Hühnchen mit den beiden zu rupfen…

    Bereits in den Anfängen seiner Karriere zeigte Stanley Kubrick eine sich durch sein gesamtes Schaffen ziehende, signifikante Vorliebe für Versagerfiguren: ob Johnny Clay in „Die Rechnung ging nicht auf“, Humbert Humbert in Lolita, Alex in Uhrwerk Orange oder der nach sozialem Aufstieg gierende und schließlich umso tiefer fallende Barry Lyndon. Den Regisseur scheint eben zu faszinieren, was im Dasein der Menschen nicht funktioniert. Die vielfach vorgeworfene Misanthropie lässt sich nicht gänzlich abstreiten, doch gerade sie ermöglicht es ihm, mit unnachgiebigem Blick die Welt zu sezieren und so Wahrheiten ans Licht zu fördern. Nun steht mit dem Boxer Gordon zwar ein - im wahrsten Sinne des Wortes - Verlierer im Zentrum, die mit Abstand am sorgfältigsten gezeichnete Figur ist jedoch Rapollo. Gespielt wird dieser von Frank Silvera, einem heutzutage vollständig vergessenen, auf Jamaika geborenen Schauspieler, der aufgrund seiner hellbraunen Hautfarbe mühelos in die Rollen von Weißen, Lateinamerikanern und Dunkelhäutigen schlüpfen konnte. Silvera verkörpert den Unterweltboss als skrupellosen Tyrannen, lässt jedoch in seinem nuancenreichen Spiel eine berührende Verletzlichkeit durchscheinen, die besonders in jener Szene, in der ihn Gloria als hässliches altes Scheusal bezeichnet, zum Tragen kommt. Neben ihm verblassen Jamie Smith und die mit einem markanten Gesicht gesegnete Irene Kane deutlich, vornehmlich weil ihre Charaktere zu stereotyp geraten sind und sich außerdem während der kurzen Laufzeit kaum entfalten. Die vorrangige Bedeutung Rapollos für den Regisseur lässt sich im Übrigen auch am Originaltitel ablesen: „Killer’s Kiss“ nimmt direkt auf die Zuneigung des Brutalos zu seiner Gloria Bezug.

    13 Jahre nach dessen Entstehung betrachtete Kubrick sein „offizielles“ Debüt alles andere als positiv: „Von der Inszenierung her gesehen, gibt es einige gute Passagen, aber das Thema ist idiotisch. Das Schauspielerische ist sehr mittelmäßig, und... was kann ein Film wert sein, dessen Geschichte idiotisch und dessen Schauspieler schlecht sind?“ Harsche Worte eines berüchtigten Perfektionisten. Obgleich dieses Urteil zu hart ausfällt, ist der Film, wie bereits angedeutet, beleibe nicht ohne Makel. Ein wenig kurios mutet etwa eine Sequenz an, in der Kubricks damalige Gattin Ruth Sobotka als Glorias Schwester in einer Ballettdarbietung zu sehen ist. Darüber gelegt ist ein Voice-Over, das die tragische Geschichte dieser Figur beleuchtet. Zwar ist es verständlich, dass ein Kunstgriff vonnöten war, um das minimale Budget zu kaschieren, eine Illustrierung des Gesagten wäre aus Kostengründen schlicht nicht umzusetzen gewesen, doch insgesamt ist dies alles deutlich zu lang geraten und wirkt letztendlich eher wie ein Versuch, die ohnehin knapp bemessene Filmlänge zumindest ein wenig zu strecken. Die ausführliche Vorgeschichte ist für das Verständnis Glorias in dieser Form auch gar nicht notwendig. Hier zeigt sich eine beim jungen Kubrick feststellbare Schwäche bei der Exposition seiner Geschichten, wie sie auch in „Die Rechnung ging nicht auf“ auffällt. Nicht sonderlich packend ist zudem eine Verfolgungsjagd über den Dächern New Yorks, da hier mehr Wert auf die grandios kadrierten Einstellungen als auf die Entwicklung der Spannung gelegt wird. Diese Mankos, ebenso wie eine etwas unbeholfen choreographierte und überlange Kampfszene, fallen angesichts der Tatsache, dass es sich hier um die Arbeit eines noch unerfahrenen Filmemachers handelt, nicht allzu sehr ins Gewicht und sind allesamt verzeihlich. Originell ist das Ringen um Leben und Tod, das mithilfe zweckentfremdeter Schaufensterpuppen umgesetzt wurde, nämlich zweifelsohne.

    Ferner sprach Kubrick immer davon, dass er damals einfach froh gewesen sei, überhaupt ein Projekt realisieren zu können. Daher ist der vorhersehbare Plot, der einzig durch die Rückblendenstruktur ein wenig emporgehoben wird, für ihn von nachrangiger Bedeutung, er ist ihm Mittel zum Zweck, um einige herausragenden Szenen zu verbinden, etwa einen sehr realistisch anmutender Boxkampf oder eine Traumsequenz, bei der noch nicht entwickeltes Filmmaterial zu sehen ist. Einen ähnlichen Effekt verwendete er später auch in „2001 – Odyssee im Weltraum“. Im besten Sinne handelt es sich bei dem für 40.000 Dollar entstandenen Film um eine Talentprobe. Schon hier erweist sich Kubrick als einer der begnadetsten Stilisten des Kinos. Es kommt zwar beim Wechsel von Interieurs zu Außenräumen zu stilistischen Brüchen, doch gerade diese sind höchst interessant, zeigen sie doch einen Künstler auf der Suche. Herrscht in den Innenszenen klassische Bildgestaltung im Stil des Film Noir vor, so zeigen die Straßenszenen deutlich die Einflüsse von Kubricks Fotografentätigkeit für das Magazin Look. In ihrer rauen Eindrücklichkeit gemahnen sie zugleich an die Street photography eines Garry Winogrand, ohne jedoch eine individuelle Note vermissen zu lassen. Besonders die Panoramaansichten der Stadt während der Verfolgung könnte man sich - salopp formuliert - auch „an die Wand hängen“. Der visuelle Stil bringt vor allem eines der Hauptthemen der Darstellung riesiger Städte in sämtlichen Künsten auf den Punkt: „der Großstädter als Single - allein lebend, isoliert, vereinsamt“, wie es Angelika Corbineau-Hoffmann treffend formuliert. Sporadische Salsa-Rhythmen verdeutlichen zudem die Hektik und hitzige Atmosphäre des Großstadtlebens.

    Mit den Werken des reifen Stanley Kubrick vermag er zwar nicht mitzuhalten, aber für sich genommen ist „Der Tiger von New York“ ein Filmerlebnis. Trotz erkennbarer Schwächen offenbart die Regie ein Talent, mit dessen Hilfe sich Kubrick später noch zu so manchem Höhenflug emporschwingen sollte. Daher erweist es sich gerade für Cineasten, die an der filmischen Entwicklung des Autodidakten interessiert sind, als äußerst lohnend, sich mit diesem Frühwerk auseinanderzusetzen.

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