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    Boulevard der Dämmerung
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Boulevard der Dämmerung
    Von Ulrich Behrens

    Niemand hätte einen solchen Film erwartet, meinte Billy Wilder, einen Film aus Hollywood über Hollywood. „Und es ist sehr schwer, in Hollywood einen Film über Hollywood zu machen. Weil sie dich wirklich unter die Lupe nehmen” (1). Und so waren auch die Reaktionen aus dem Paradies bzw. der Hölle: Während einer Testvorführung fluchte Studio-Boss Mayer: „Diesen Billy Wilder sollte man nach Deutschland zurückschicken! Er beißt die Hand, die ihn füttert!” Als Wilder das hörte, antwortete er: „Ich bin Mr. Wilder und warum ficken sie sich nicht selbst?!” (2) Anfangs hatte Marshman die Idee einer Liebesgeschichte zwischen einem Stummfilmstar und einem Drehbuchautor. Mary Pickford und Mae West lehnten es ab, die weibliche Hauptrolle zu spielen. Dann begeisterte sich Wilder für Gloria Swanson, die wirklich ein Stummfilmstar gewesen war, bei Erich Stroheim einen Film gemacht hatte und die in Ausschnitten dieses Stummfilms, der nie veröffentlicht worden war, im Film zu sehen ist.

    Mit Bracketts und Wilders Ideen wurde „Sunset Boulevard” zu einem Drama über das Ende der Stummfilm-Ära. „Das war das Ende von Norma Desmond. Und es war immer da, direkt vor ihnen – sie sahen es kommen, dieses ›Ding‹: Ton” (3).

    Joe Gillis (William Holden) ist ein besessener Hollywood-Autor, dem jedoch kein Glück beschieden ist. Verschuldet befindet er sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern und kommt zufällig an der ruinösen Villa am Sunset Boulevard 10086 vorbei, in dem die alternde Stummfilm-Diva Norma Desmond (Gloria Swanson) lebt und vergeblich an einem Comeback arbeitet. Jetzt sieht sie eine Chance, Gillis für einen neuen Erfolg zu benutzen. Er soll das von ihr geschriebene Drehbuch „Salomé” überarbeiten. Gillis ist wenig überzeugt von dem Stück und hält nichts von Stummfilmen, deren Zeit längst vorbei ist, willigt aber dennoch ein, weil er sich möglicherweise durch diese Arbeit von seinen Gläubigern befreien kann.

    Normas Butler Max von Mayerling (Erich von Stroheim), früher ihr Regisseur und Ehemann, muss für Gillis ein Zimmer herrichten; Norma will ihn Tag und Nacht in ihrer Nähe haben, setzt ihm einen alten Stummfilm von ihr nach dem anderen vor die Nase. Gillis lässt das über sich ergehen, immer in Gedanken an das Geld. Doch als sich Norma auch noch in ihn verliebt, naht unweigerlich eine Katastrophe, zumal sich Gillis in eine junge Frau verliebt hat, die ihm die Kraft gibt, wieder eigene Drehbücher zu schreiben ...

    Der Film beginnt mit einer Szene, die brachialer nicht sein kann, und zwar sowohl in bezug auf die frühen 50er Jahre, als auch im Hinblick auf Hollywood: Gillis treibt tot im Swimmingpool von Norma und beginnt aus dem Off, seine Geschichte zu erzählen. Und diese Geschichte, erzählt mit zynischer Offenheit und extrem kritischer Sicht auf die Paramount und alle anderen Produktionsfirmen, hat es in sich. „Sunset Boulevard” ist im strengen Sinne Wilders einziges Melodram, aber keines der honigtriefenden, selbstverliebten oder gar selbstmitleidigen Art, wie man sie aus den 50er Jahren kennt. Der Film ist ein erschütterndes Drama und Dokument über die Brutalität des Erfolgszwangs in der Schmiede der Filmkunst.

    Eine in sich selbst verliebte, in ihre Vergangenheit eingeschnürte, weil von der Filmindustrie fallen gelassene Diva kämpft einen völlig aussichtslosen Kampf gegen den: Ton. Der Ton ist für Norma die Ankündigung des Todes, des Verfalls; sie gibt sich der Illusion hin, den Ton zum Schweigen zu bringen. (Ironie des Schicksals: „Sunset Boulevard” drehte Wilder in einer Zeit, als in Hollywood selbst die Ängste langsam aber sicher aufkamen, der Kinofilm könne vom Fernsehen verdrängt werden.) In diesen tragischen Kampf gerät jemand, der aus anderen Gründen zum ausgestoßenen Opfer des Erfolgszwangs wurde, aber noch immer glaubt, durch Abrackern, gute Ideen usw. dem Versagen als Drehbuchautor zu entkommen: Gillis.

    Wilder erinnert auch durch das Auftreten anderer Stummfilmstars, etwa Buster Keaton oder von Stroheims mit dessen nie vollendetem Stummfilm „Queen Kelly” mit Gloria Swanson an die Geschichte des Verhängnisses vieler Ex-Stars. Mit den Mitteln der Stummfilm-eigenen melodramatischen Zuspitzung und der Nüchternheit eines Regisseurs, der die Szene aus eigenen Erfahrungen kennt, insbesondere was seinen eigenen Kampf nach der Emigration in die USA angeht, hält Wilder der Filmindustrie und allem und jedem, der um sie herum schwirrt, den Spiegel vor Augen – ohne Skrupel, ohne Scheu, ohne Gnade. Er zeigt aber nicht nur die Brutalität eines Geschäfts, sondern ebenso die Verwischung von Wirklichkeit und Phantasie und ihren Folgen in einer Industrie, die sich dem Zauber des Films verschrieben hat, aber die menschlichen Schicksale und Nöte darüber oft vergisst oder verdrängt.

    Hollywood reagierte auf den ersten Blick erstaunlich. Der Film erhielt elf Oscar-Nominierungen und letztlich drei Oscars. Vielleicht hoffte man dadurch, Wilder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vielleicht.

    Wie muss so manchen damaligen Filmproduzenten der Anblick Holdens, im Swimmingpool liegend, mit weit offenen Augen, dem Zuschauer direkt in die Augen „sehend”, schockiert haben; und dann erzählt er als Toter auch noch die Geschichte seines Lebens. Am Schluss des Films schließt sich der Reigen: Norma, die mit Gillis ihre vermeintlich letzte Hoffnung getötet hat, steigt ein letztes Mal die Treppe ihres Hauses herunter, hält die filmenden Journalisten für Kameraleute, denkt, sie wäre am Set. Der Filmname Norma Desmond ist zum bleibenden Symbol der Schattenseiten Hollywoods geworden.

    In gewisser Weise ist „Sunset Boulevard” Wilders wichtigster Film. Wilder rechnet mit denen ab, nein, nicht von denen er lebt, denn er lebt vom Publikum, von der Öffentlichkeit und vor allem von seinen Ideen, seinem Einfallsreichtum, seinen Schauspielern –, sondern mit denen, die manchmal oder öfter über Leichen gehen, von denen sie gelebt haben. Vielleicht war der Film für Wilder ein notwendiger Schritt, um danach alles andere machen zu können, was er gemacht hat, eine Art Klarstellung gegenüber Hollywood, gegenüber dem Publikum, auch gegenüber sich selbst und seiner eigenen Erfahrungen als junger Drehbuchautor.

    Ein großartiger, bissiger, ironischer, dramatischer Film, mit dem ich meine Erinnerungen an Billy Wilder in dieser Form abschließen möchte. Es hat Spaß gemacht, Mr. Wilder, sehr großen Spaß.

    (1) Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?, München und Zürich 2000, S. 28.

    (2) Zit. n. Crowe, S. 339.

    (3) Crowe, S. 106.

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