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    Die Stadt der verlorenen Kinder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Stadt der verlorenen Kinder
    Von Ulrich Behrens

    Albträume! Ein einziger Albtraum! Die Szenerie entfaltet sich vor unseren Augen wie eine dunkle Fantasywelt. Ein Weihnachtsmann kommt durch den Schornstein. Noch lacht der Junge mit Freude in den Augen. Dann steigen weitere Weihnachtsmänner aus dem Kamin. Das Lachen und die Freude verschwinden. Der Junge weint, Angst steht plötzlich in seinen Augen geschrieben. In dieser Welt haben alle Kinder Angst, alle Albträume. Das Kindliche scheint verschwunden, das Reine, das Unverblümte, das Offene, dieses unschuldige Lachen der Kinder – weg. „Die Stadt der verlorenen Kinder“ von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro ist schon etwas Besonderes – vor allem anderen appelliert er an die Phantasie der Erwachsenen, fordert Rückbesinnung auf das klassische Märchen.

    Der Albtraum dehnt sich aus, er entfaltet sich vor unseren Augen. Eine von Dunkelheit geschwängerte Hafenstadt, verwinkelte Gassen, deren Ecken und Kanten, Treppen und Häuser Mysteriöses zu verbergen scheinen. Das, was sich da entfaltet, scheint nicht von unserer Welt. Gaukler und Prostituierte, Hafenarbeiter und Seeleute, alte Kähne, und etliche geheimnisvolle Gestalten beherrschen die Szenerie. Sicher, alles Dinge, die wir kennen. Aber das Zusammenspiel all dessen ist doch derart „anders“, dass diese Welt nicht als die unsere erscheint. Ein Mann wird mit einem Messer ermordet. Und keiner schert sich drum. In der Hafenstadt herrscht so etwas wie Krieg. Eine Bande von Zyklopen will die Herrschaft der Menschen für immer zerstören, Männergestalten mit einem künstlichen, aufgesetzten Auge, die von sich als besserer Rasse sprechen. Sie stehlen Kinder. Sie haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen – mit Krank (Daniel Emilfork), einem glatzköpfigen Monster, das auf einer Art Bohrinsel draußen auf dem Meer lebt. Auf der Insel befindet sich eine Art Laboratorium, in dem Kraft sich an eine Maschine anschließen lässt, um die Träume der von den Zyklopen eingefangenen Kinder zu stehlen…

    Jean Pierre Jeunet („Delicatessen“, Die fabelhafte Welt der Amelie, Alien – Die Wiedergeburt) und Caro zaubern mit ihren Bildern eine Welt, die wie eine Mischung aus Science-Fiction, Märchen und Fantasy anmutet. Dem dunklen, manchmal makabren, oft skurrilen Design der Hafenstadt entsprechen die mysteriösen Gestalten, die sich hier und auf Kranks Bohrinsel tummeln. Eine Krake wirkt hier wie eine Mischung aus der Hexe aus „Der Zauberer von Oz” und einer (bzw. zwei) bösartigen Lehrerinnen oder Gouvernanten. Die Zyklopen, manchmal fast bis ins Lächerliche gezogene Gestalten, scheinen einer Sciencefiction entsprungen zu sein. Am abstrusesten in diesem Gruselkabinett aber wirkt Krank, der seinem Namen alle Ehre macht - er ist umgeben von einem sechsfachen Klon und einem grotesken Zwerg. Die Utensilien dieser bizarren Bohrturm-Welt sehen aus wie Relikte aus der Frühphase des Industriezeitalters kombiniert mit moderner Computertechnologie.

    Alles in diesem Film scheint frei erfunden, ausschließlich phantasiert und - ja - fast erträumt zu sein. Nicht nur die Albträume der entführten Kinder stechen uns ins Auge, nein, der ganze Film ist ein einziger, nicht enden wollender Albtraum – allerdings einer, in dem sich erst leise, dann aber doch immer hörbarer etwas anderes regt – so, als ob jemand endlich aufwachen will, so, als ob mit einem bösen Spuk Schluss gemacht werden soll.

    Jeunet und Caro erzählen in erster Linie ein Märchen - ein Märchen klassischer Struktur: mit zwei Helden, die sich ihrer Unschuld endgültig entledigen müssen, und mit bösen Hexen und Zauberern, die es zu besiegen gilt. „Die Stadt der verlorenen Kinder” ist vor allem anderen ein Phantasiegebilde, das uns im Kino vielleicht wieder daran erinnert, was Kino eben auch und vor allem ist oder sein kann. Ganz ähnlich wie in „Delicatessen” und in gewissem Sinne auch in „Die fabelhafte Welt der Amelie” setzen Jeunet und Caro auch hier auf den „inszenierten Zufall”, durch den sich ganz plötzlich - einem Wunder (eben wie im Märchen) gleich - aus einem fallenden Tropfen über eine Kettenreaktion ein rettendes Ereignis entwickelt, das den Helden zugute kommt.

    Unterstützt wird dieses phantastische Allerlei von Handlung, Umständen, Szenerie und Personen durch den Einsatz ebenso phantastischer Mittel wie etwa dem mit einer Art Spritze ausgestatteten Floh, der Gestochene zu aggressivem Verhalten zwingt. Besonders eindrücklich in der schauspielerischen Leistung sind neben Ron Perlman (Hellboy, Blade 2, Schwerter des Königs) als Kraftprotz die beiden Kraken Odile Mallet (Narco) und Geneviève Brunet, aber Daniel Emilfork als Krank und Dominique Pinon (Frantic, Claire, Clever und Smart) in seinen sieben Rollen als sechsfacher Klon und Taucher.

    Bei der ganzen Düsternis des Films haben Jeunet und Caro allerdings den Humor nicht vergessen. Insgesamt wirkt die Geschichte nämlich immer auch als Komödie, weil insbesondere in der Darstellung der skurrilen Figuren – der Krake, der Zyklopen, Kranks – das Komische im Tragischen stets mit zum Vorschein kommt.

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