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    Tannöd
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Tannöd
    Von Sascha Westphal

    Kaum ein Fall in der deutschen Kriminalgeschichte hat derart viel Spekulationen ausgelöst wie der sechsfache Mord, der in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 auf dem abgelegenen Hof Hinterkaifeck in Oberbayern geschehen ist. Eine ganze Familie samt Kindern und Magd wurde in dieser nasskalten Nacht von einem oder mehreren Tätern auf brutale Weise mit einer Art Spitzhacke erschlagen. Die genauen Umstände der Morde wurden nie aufgeklärt und sorgen damit auch heute noch, beinahe 90 Jahre später, für ein nicht abreißendes Interesse an dem Fall. Nach Esther Gronenborns Mystery-Thriller Hinter Kaifeck, einer sehr freien, von bayerischen Volkssagen geprägten Annäherung an die Ereignisse, kommt nun - gut acht Monate später - mit dem Krimi-Drama „Tannöd“ gleich ein zweiter, in die 50er Jahre verlegter Film über die Ereignisse auf dem Mordhof in die Kinos. Bettina Oberlis Adaption des gleichnamigen Romans von Andrea Maria Schenkel erweist sich zwar als längst nicht so reißerisch und spekulativ wie Esther Gronenborns Horror-Szenario. Doch sie und ihre Drehbuchautorin Petra Lüschow haben sich ähnlich weitreichende Freiheiten genommen. Der eher nüchterne, geschickt zwischen Distanz und Nähe hin und her changierende Tonfall des Romans musste im Rahmen einer deutlichen Konventionalisierung des Stoffes einem aggressiven und anklägerischen Gestus weichen.

    Gut zwei Jahre sind seit dem Mord an der Familie Danner und ihrer gerade erst auf dem Tannöd-Hof angekommenen Magd Marie (Dagmar Sachse, Zugvögel ... Einmal nach Inari, Selbstgespräche) vergangen. Der Mörder ist immer noch nicht gefasst und die Dorfgemeinschaft sucht ihr Heil im Schweigen und Verdrängen. Nur Maries Schwester Traudl (Monica Bleibtreu, Vier Minuten, Das Herz ist ein dunkler Wald), die sich schuldig an deren Schicksal fühlt, gibt keine Ruhe mit ihren Verdächtigungen und Beschuldigungen. Und so ist sie es auch, die die gerade im Dorf angekommene Kathrin (Julia Jentsch, Die fetten Jahre sind vorbei, Effi Briest) immer wieder mit der alten Geschichte bedrängt. Eigentlich wollte Kathrin nur zur Beerdigung ihrer verstorbenen Mutter gehen und deren Nachlass regeln. Aber Traudl lässt der jungen Altenpflegerin, die ihre Mutter kaum kannte, keine Ruhe. Sie konfrontiert sie immer wieder mit den Morden und der Geschichte der Danners. Als Kathrin daraufhin beginnt, Fragen zu stellen, zumal sich schon bald andeutet, dass ihre eigene Geschichte mit der der Erschlagenen verknüpft ist, reagieren die meisten Dorfbewohner abweisend oder sogar feindselig: Im Deutschland der 1950er Jahre sollte die Vergangenheit eben besser ruhen...

    Jede Verfilmung eines schon existierenden Stoffes ist immer auch eine Interpretation. Kein Roman, kein Comic, keine Fernsehserie lässt sich ohne Veränderungen und Eingriffe in einen Film verwandeln. Nur wer sich von der Vorlage löst, wird zu einer eigenen Sicht finden. Trotzdem machen sich Regisseure und Drehbuchautoren durch die Art ihrer Interpretation natürlich immer auch angreifbar. Im Extremfall stellt sich dann die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, sich ganz von der Vorlage zu lösen und gleich eine eigene Geschichte zu entwickeln. Im Fall von „Tannöd“ wäre dieses Vorgehen durchaus legitim gewesen, schließlich ist auch Andrea Maria Schenkels Krimi schon eine subjektive Interpretation realer Vorgänge. Doch dann hätten Filmemacher und Produzenten sich natürlich nicht mehr auf den überaus erfolgreichen Roman berufen können, der ihnen ohne Frage ein größeres Publikum erschließt.

    Es ist nicht so, als wäre die Geschichte von „Tannöd“ nicht wiederzuerkennen. Bettina Oberli und Petra Lüschw sind in einigen inhaltlichen Aspekten und Details sogar recht nah an ihrer Vorlage drangeblieben. Doch schon die Einführung von Kathrin, dieser Detektivin wider Willen, verschiebt deutlich den Schwerpunkt der Erzählung. Sie dient eben nicht nur aufgrund ihrer Fremdheit als Identifikationsfigur für den Zuschauer, sie muss auch noch selbst in die düstere Tragödie der Danners verstrickt sein. Auch Andrea Maria Schenkel erwähnt zu Beginn eine Frau, die in das Dorf kommt und dort auf die Nachwirkungen der Morde stößt, aber der Leser erfährt nichts über sie. So kann Schenkel auf eine faszinierende und höchst ambivalente Weise zwischen einzelnen Erzählperspektiven hin und her wechseln. Ihr Roman ist zugleich ganz nah an den Ereignissen dran und doch auch wieder weit weg von ihnen. Daraus erwächst eine Vielstimmigkeit, die Bettina Oberli von vornherein vermeidet.

    Auch der Film wechselt ständig zwischen zwei Zeiten hin und her, zwischen den Tagen vor und nach den Morden auf der einen Seite und denen nach Kathrins Ankunft im Dorf. Aber damit erfüllt Bettina Oberli nur klassische Krimikonventionen. Es gibt natürlich den einen oder anderen Widerspruch zwischen den Erzählungen und Erinnerungen der Dorfbewohner. Nur sind die alle dem Eigennutz der Figuren geschuldet. Die Perspektive des Films ist immer die eines Beobachters von außen, der auch auf Kathrin noch aus einer erhöhten Distanz herabblickt. Für Bettina Oberli und ihre Autorin sind die so düsteren wie sensationalistischen Aspekte des Romans - der Inzest und die Gier, der geplante Raub und die sexuellen Übergriffe - nur Material für eine Abrechnung mit dem dörflichen Leben in den 1950er Jahren. Während Andrea Maria Schenkel nicht einmal über ihre Figuren und ihr Handeln urteilt, klagt Bettina Oberli unentwegt an. Kein Klischee über die Engstirnigkeit und Hartherzigkeit, die Fremdenfeindlichkeit und Bigotterie einer von dem großstädtischen Leben abgeschiedenen Gemeinde ist ihr zu platt. Wo sie auch hinblickt, sieht sie nur Dumpfheit und eine kaum gebändigte Gewaltbereitschaft, Frauenfeindlichkeit und einen geradezu bodenlosen Egoismus - und natürlich ist eines ihrer Hauptangriffsziele ein heuchlerischer Pfarrer (Werner Prinz, „Die Siebtelbauern“).

    Diese schon ans Herablassende grenzende Abrechnung mit der Provinz ist in ihrer himmelschreienden Einseitigkeit umso bedauerlicher, da sich Bettina Oberli damit letztlich selbst im Weg steht. Schließlich gelingen ihr immer wieder auch ungeheuer dichte Momente, in denen sie das Bedrohliche der düsteren Waldlandschaft um Tannöd herum perfekt einfängt. Außerdem wäre angesichts ihres hervorragenden Ensembles, aus dem Julia Jentsch als an das Gute glaubende Fremde und Monica Bleibtreu in ihrer letzten großen Rolle als von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen an den Rand des Wahnsinns getriebene Frau noch einmal besonders hervorstechen, sowieso ein ganz anderer Film denkbar gewesen: nämlich einer, der gerade die Vielstimmigkeit und Offenheit des Romans eingefangen hätte, statt sich mit einer übereindeutigen Anklage zu begnügen.

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