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    Ein Sommer in New York - The Visitor
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ein Sommer in New York - The Visitor
    Von Jan Hamm

    Die USA sind wahrlich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die einzige Regel? Sich nicht beim Ausschöpfen und Ausnutzen erwischen zu lassen. Niko Bellic, osteuropäischer Immigrant und Held des Videospiels „Grand Theft Auto 4“, hat diese Maxime befolgt und sich mit der tatkräftigen Unterstützung unzähliger Gamer zum erfolgreichen Mafioso hochgearbeitet. Laut Herstellerangaben hat sich der Titel über zehn Millionen Mal verkauft und Umsätze generiert, von denen selbst Hollywood nur träumen kann. Seltsam eigentlich, denn die Angst, den amerikanischen Traum mit sogenannten Illegalen zu teilen, ist zumindest außerhalb solcher virtueller Welten so präsent wie eh und je. Tarek Khalil, syrischer Immigrant und einer der Protagonisten des Dramas „The Visitor“, hatte nicht so viel Glück. Im Gegensatz zum kriminellen Bellic will er eigentlich nur Musik machen, wird aber dennoch verhaftet und eingesperrt. Vom Eingang der Haftanstalt aus sichtbar: ein meterhohes „Grand Theft Auto“-Werbegraffiti. Ein anklagendes Bild, das aber keineswegs von einem verbitterten Film eingerahmt wird. Dem Schicksal Tareks zum Trotz träumt Thomas McCarthys „The Visitor“ einen Traum vom multikulturellen Amerika und der Heilung urbaner Bezugslosigkeit. Die wenigen Ausrutscher ins Prätentiöse beiseite genommen, begeistert der warmherzige Film mit wohldosierter Sentimentalität, einem toll fotografierten New York und dem Oscar-nominierten Richard Jenkins in der Hauptrolle.

    Mit resignativer Gleichgültigkeit lässt sich Walter Vale (Richard Jenkins, Burn After Reading) durch seinen Arbeitsalltag treiben, ein nennenswertes Privatleben führt er nicht. Auf Bitten einer Universitäts-Kollegin reist der einsame Witwer nach New York, um einer Projekt-Präsentation beizuwohnen. In seiner dortigen Zweitresidenz erwartet ihn eine Überraschung: In der Badewanne liegt eine junge Frau (Danai Jekesai Gurira, Wen die Geister lieben), deren panische Schreie ihren Freund Tarek (Haaz Sleiman, American Dreamz) herbeizitieren. Nach einer kurzen Auseinandersetzung wird klar, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Überrumpelt und verängstigt verschwindet das bleibelose Paar in der Nacht. Walter aber, von Mitleid ergriffen, bittet sie zurück. Im Lauf der folgenden Tage freundet er sich mit Tarek an, der im Gegenzug für die Gastfreundschaft ordentlich an Walters Lebensgeistern rüttelt. Doch die neue Harmonie ist nicht von Dauer. Hilflos muss Walter zusehen, wie der Immigrant wegen einer Banalität von der Polizei aufgegriffen und aufgrund fehlender Aufenthaltsgenehmigung mitgenommen wird. Um seinen Freund aus der Haftanstalt zu befreien, tritt Walter einer erschreckend gleichgültigen Bürokratie entgegen...

    Mit „The Visitor“ bittet Thomas McCarthy Amerika auf die rote Couch. Der Mythos des Selfmade Man hat seinen Glanz verloren, die Erzählung von der erfolgreichen Karriere verkommt zur Farce und ihr Identifikationspotential schrumpft. Walter hat seinen Namen etabliert und verteidigt die Marke Vale bei der Präsentation eines Projektes, an dem er eigentlich bloß formell beteiligt ist. Er ist vermögend genug für zwei ansprechend gelegene Wohnungen, doch eine emotionale Heimat hat Walter nicht. Hinter der Alltagsfassade herrscht gähnende Leere. Mit einer präzisen Exposition stellt McCarthy das Problem seines Klienten vor und schreitet dann unvermittelt und mit vorbildlichem Berufsethos zur Tat. Sobald Walter das Pärchen zurück in seine Wohnung bittet, öffnet er auch sich selber für den Heilungsprozess.

    Die Annäherung zwischen Tarek und seinem Gastgeber wird geduldig entwickelt, als Medium dient der musikalische Austausch. Erst schüchtern, dann zunehmend begeistert, lässt Walter sich in die afrikanische Trommel-Kunst der Djembe einführen. Hier ist Musik Weltsprache, Perkussion ist Passion. Und auf einmal steht der einst so einsame Amerikaner im Central Park inmitten einer Musikerschar aus aller Herren Länder und schließt sich der nachmittäglichen Jam-Session an. Eine euphorische Impression vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dessen dunkle Kehrseite mit Tareks Inhaftierung auf dem Fuß folgt. Diese andere Seite der USA ist bürokratisch, gleichgültig und blind für die Selbstheilungskräfte eines multikulturellen Miteinanders.

    Leider gleitet der Ankläger McCarthy immer dann in Selbstgefälligkeit ab, wenn die Botschaft allzu deutlich wird. „We’re not helpless children“, schreit ein zorniger und allerdings völlig hilfloser Walter dem Bediensteten am Empfang der Haftanstalt entgegen, als dieser ihm Informationen zum Verbleib des Freundes verweigert. Über die Erkenntnis, dass der rigorose Umgang mit dem „Illegalen“ Tarek - einem idealtypisch vorbildlichen Zuwanderer - unfair ist, kommt „The Visitor“ nicht hinaus. So simpel gestrickt die politische Anklage ist, so scharf und angenehm subtil fällt der soziologische Blick auf den Problemkomplex aus. McCarthy zeigt ein Land, das sich in seiner Medienkultur an kriminellen Zuwanderern aufgeilt, im Realfall aber unfähig zur Reflektion über die eigene Ratlosigkeit ist. Sei es das subversiv platzierte Grand-Theft-Auto-Graffiti oder ein knapper Verweis auf die mitunter im 9/11-Trauma begründete Paranoia gegenüber arabischen Zuwanderern – hier sagt „The Visitor“ viel, ohne große Worte zu verlieren.

    Abseits der kurzen Augenblicke offener Wut gegen die politische Maschine findet McCarthy einen effektiven Weg, seine hoffnungsvolle Perspektive zu vermitteln. Indem er über weite Strecken Walters seelische Genesung ins Zentrum rückt, erzählt „The Visitor“ viel mehr von Möglichkeiten als von Verfehlungen. In kleinen Schritten vom alten Griesgram zum nahezu wieder jugendlichen Lebemann übergehend, läuft Charakterkopf Richard Jenkins zur Hochform auf. Durch sein zurückhaltendes und präzises Spiel etabliert er Walter mühelos als sympathische Identifikationsfigur, integer bis zur großartigen Schluss-Einstellung, in der eine gewisse Djembe einmal mehr eine wichtige Rolle spielt. Auch der restliche Cast überzeugt, allen voran Hiam Abbas (Schmetterling und Taucherglocke), die im letzten Drittel als Tareks Mutter Mouna Khalil dazu stößt und dem Film einen hauchzart-romantischen Touch verleiht. Ohne jemals zum simplen Love Interest zu verkommen, besiegelt sie Walters soziales Wiedererwachen, indem er sich durch sie erstmals seit dem Tod seiner Gemahlin wieder als Mann realisieren und die rote Couch damit verlassen kann. Ist „The Visitor“ blauäugig? Die Antwort auf diese Frage hängt maßgeblich davon ab, wie sehr man sich mit McCarthys Hymne auf das Multikulti-Potential der USA identifizieren kann. Gerade in einem Land unbegrenzter Möglichkeiten ist dieser Traum jedenfalls weiterhin verlockend.

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