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    Willkommen im Tollhaus
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Willkommen im Tollhaus
    Von Nicole Kühn

    Todd Solondz lässt sich immer ausgiebig Zeit für seine Filme, in denen er mit Vorliebe die mühsam errichteten Kulissen der Keimzellen der Gesellschaft, auch „Familien“ genannt, unaufhaltsam bröckeln lässt. Entsprechend vielschichtig und hintergründig ist das, was dabei herauskommt. Wie beim späteren „Happiness“ (1998) ist auch bei „Willkommen im Tollhaus“ der Titel durchaus Programm. Die unkonventionelle Außenseiterin Dawn kämpft ebenso energisch wie unbeholfen gegen ihr Schicksal in einer weitgehend mit sich selbst beschäftigten Umgebung an. Solondz ist schonungslos genug, seiner Protagonistin keine Peinlichkeit zu ersparen, und feinfühlig genug, sie weder zu verurteilen noch Mitleid für sie zu erzwingen.

    Dawn Wiener (Heather Matarazzo) hat es nicht leicht, daran lässt schon ihr erster Auftritt keinen Zweifel: In einem mutigen Mix aus zarten Blütenmustern und grellem Pink steht sie unbeholfen in der Schulmensa, die Haare zu einem harmlosen Zopf gebunden und die Augen hinter einer dicken Brille versteckt. Die Ablehnung, die ihr überall entgegenschlägt, ist keine einmalige Angelegenheit. Sie ist für das Mädchen Normalität. Obwohl sie den offenen Anfeindungen kaum etwas entgegenzusetzen hat, gibt sie dennoch nicht klein bei. Mit ihrer Haltung und ihren Meinungen hält sie nicht hinterm Berg und besitzt sogar den Mut, sich ohne Aussicht auf Dankbarkeit für andere Opfer kindlicher Grausamkeiten einzusetzen. Obwohl sie auch bei ihrer Familie keinen Rückhalt findet, steckt sie sich hohe Ziele. Ausgerechnet der megacoole Möchtegern-Rocker Steve (Eric Mabius) hat es ihr angetan. In ihrem aussichtslosen Vorhaben, ihn für sich zu gewinnen, schlägt sie die schüchternen Annäherungsversuche des eher raubeinigen Klassenkameraden Brandon (Brendan Sexton III) in den Wind. Ein Fehler, den sie wieder gutzumachen versucht. Doch gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut gemacht…

    Das Funktionsprinzip von Coming-of-Age-Komödien verwundert immer wieder. Obwohl sie einen an die in vieler Hinsicht unangenehmste und sicher turbulenteste Zeit im Leben erinnern, gelingt es ihnen oft dennoch, aufs Beste zu unterhalten. Leicht fällt dies nicht zuletzt deswegen, weil die Hauptfigur am Schluss in der Regel um einige Lektionen schlauer und in Frieden mit sich und der Welt ist. Todd Solondz (Palindrome) gönnt seinen Charakteren diesen Luxus nur selten, und so wandelt sich seine Hauptfigur hier auch nicht zu seiner strahlenden oder wenigstens innerlich gestärkten Heldin, vielmehr wird deutlich, dass sie nicht wirklich raus kann – nicht aus dem Tollhaus und auch nicht aus ihrer Haut. Trotz dieser Unentrinnbarkeit unterhält der Film immens, indem er den Zuschauer auf eine Achterbahnfahrt zwischen energischer Hoffnung und bodenlosem Frust mitnimmt.

    Solondz erschafft für seine Story über das unvermeidliche Verlassen des Kindheitsparadieses eine Figur, die genau so ist, wie sich viele in diesem Stadium fühlen: ungelenk, unattraktiv und nirgendwo richtig dazugehörig. Und doch mit einem Willen zur Selbstbehauptung, der stark genug ist, Realitäten auszublenden: Bei ihrer Flucht in den lediglich aus ihr und einem weiteren Außenseiter bestehenden „Club For Special People“ registriert Dawn den Euphemismus gar nicht, der – politisch korrekt - das Wort „Behinderung“ blumig ersetzt. Selbst in ihren naivsten Momenten wagt man jedoch kaum, aus vollem Halse über dieses Mädchen zu lachen. Dazu nimmt der Regisseur seine Heldin zu ernst, ohne jedoch den humoristischen Blick auf die Situationen zu vernachlässigen.

    Er macht es sich jedoch auch nicht so einfach, seine Protagonistin zur Heldin gegen den unsensiblen Rest der Welt zu machen. All die Lieblosigkeiten, die ihr seitens der Familie entgegenschlagen, geschehen ohne jede Absicht. Vor allem den Eltern ist nicht bewusst, wie wenig sie ihre Tochter als eigene Persönlichkeit wahrnehmen.

    Die Verschrobenheiten dieser Familie, aber auch des nachbarschaftlichen und schulischen Umfeldes, entlarvt der Film als erschreckende Alltäglichkeit, die nur deshalb kaum auffällt, weil sie eben allerorten zu finden ist. Die Verrücktheit dieser Welt drückt sich auch in den schrillen Interieurs aus, in die Solondz seine Familie steckt. In diesem bunten Tollhaus frönt jeder seinen eigenen kleinen Fluchten: In die Musik, in die Dawns Bruder Mark (Matthew Faber) ebenso aussichtslos investiert wie ihre kleine Schwester Missy (Daria Kalinina) in niedliche Balletthüpfereien oder ihr Freund Brandon in eine wörtliche räumliche Flucht. Nur Dawn selbst will es nicht gelingen, einen Fluchtweg zu finden. Das ist tragisch und komisch zugleich, und unterhält – auch bei mehrmaligem Sehen - bestens.

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