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    Lustvolles Streiten im Kino: Das Programm zur 5. Woche der Kritik

    Bei der Woche der Kritik wird nicht nur jeden Abend mindestens ein diskussionswürdiger Film gezeigt – es wird anschließend auch debattiert: mit internationalen Filmkritikern und -machern über Ästhetik, Politik und die Zukunft des Kinos!

    Ausgerichtet vom Verband der deutschen Filmkritik, dem auch mehrere FILMSTARTS-Redakteure angehören, werden bei der 2015 gegründeten und in diesem Jahr zum fünften Mal stattfindenden Woche der Kritik im Berliner Kino Hackesche Höfe nicht nur experimentelle, herausfordernde, die Sehgewohnheiten auf den Kopf stellende Filme gezeigt, es wird anschließend auch noch zünftig darüber diskutiert – und zwar mit hochkarätigen Gästen aus allen Gegenden der Welt.

    Wir möchten euch das Programm, also die Filme und die Diskussionen, gerne im Einzelnen vorstellen – bei den Filmen, die wir vorab schon sehen konnten, haben wir zudem noch eine kurze eigene Einschätzung dazu verfasst. Alle weiteren notwendigen Infos für die einzelnen Abende findet ihr am besten auf der offiziellen Webseite der Woche der Kritik. Tickets gibt es hingegen hier zu kaufen.

    Pakkawat Tanghom

    Donnerstag, 7. Februar um 20 Uhr:

    "Nakorn-Sawan" von Puangsoi Aksornsawang & "Gulyabani" von Gürcan Keltek

    Darum geht's: „Nakorn-Sawan” ist das betont persönliche Langfilm-Debüt der thailändischen Regisseurin Puangsoi Rose Aksornsawang, die in Deutschland studiert hat. Auf der einen Seite zeigt sie Dokumentaraufnahmen von einer Reise in die Heimat, wo sie ihre todkranke Mutter und ihren Latex erntenden Vater filmt. Dem gegenüber steht die inszenierte Geschichte einer jungen Frau aus Deutschland, die nach Thailand zurückkehrt, um dort mit Freunden und Familie an einer Beerdigungszeremonie auf einem Fluss teilzunehmen. Indem Aksornsawang nicht nur zwischen verschiedenen Zeitebenen, sondern auch zwischen der dokumentarischen und der fiktiven Form hin und her springt, kann sie dort die Inszenierung einsetzen, wo sie nicht länger dokumentieren kann oder will. Erinnerungen, die verblassen und verfärben, spielen in „Nakorn-Sawan” eine zentrale Rolle.

    Das ist auch in dem halbstündigen „Gulyabani” nicht anders. Hier erzählt eine Frau aus dem Off davon, wie sie einst entführt und missbraucht wurde, während zugleich auch die Türkei, in der sie lebte, durch politische Unruhen fast zerrissen wurde: Die Konflikte im Land waren so blutig wie nie nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch Erinnerungen sind in „Gulyabani” nicht mehr als Schatten – und deshalb bekommt der Zuschauer auch nur verfallene Häuser und schemenhafte Figuren zu sehen, während wir der unbekannten, offenbar wegen ihrer hellseherischen Fähigkeiten ausgestoßenen Frau lauschen. Irgendwann wirkt es, als sei sie selbst der titelgebende Geist, der früher von der Zukunft geplagt wurde und dem nun die Vergangenheit keine Ruhe mehr lässt.

    Das meinen wir: Zwei Filme, in denen Formen und Zeiten zerfließen, die sich dabei aber ganz stark an die Macht der Erinnerung klammern. Einmal darf die Mutter, einmal dürfen die Verbrechen einer ganzen Ära auf keinen Fall vergessen werden. Die Wirkung entwickelt sich schleichend, ist dann aber bleibend: „Nakorn-Sawan” als poetische Liebeserklärung, „Gulyabani” als schaurig-tragische Geistergeschichte.

    Die anschließende Debatte: Unter dem Titel „Widerstand gegen das Verschwinden“ versuchen die Regisseure der gezeigten Filme gemeinsam mit der Filmemacherin Carla Simón („Fridas Sommer“) und dem Kunsthistoriker Philip Ursprung herauszufinden, welchen Beitrag das Kino dazu leisten kann, dass Menschen, Gruppen und Identitäten nicht einfach ausgelöscht werden.

    Andrea Bussmann

    Freitag, 8. Februar um 20 Uhr:

    "Fausto" von Andrea Bussmann

    Darum geht's: Eine Dokumentation über die Strände der Pazifikküste in Oaxaca – und vor allem über die Geschichten, die dir dort lebenden Menschen zu erzählen haben…

    Das meinen wir: Andrea Bussmann ist nur an der Oberfläche an einer ethnologischen Dokumentation interessiert – stattdessen lauscht sie solange den Geschichten am Lagerfeuer und den Mythen der windgegerbten Strandbewohner, dass sie hier im Gegensatz zu ihrem Doku-Spielfilm-Hybriden „Tales Of Two Who Dreamt“ kaum noch etwas tun muss, um die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen. Denn genau das ist es, was diesen zugleich traumhaft schönen und düster unheimlichen Ort auszeichnet. Außerdem erfährt man, warum es so wichtig für uns Menschen ist, dass Pferde wegen ihrer doofen Kopfform so schlecht gucken können – ein Trivia-Fakt, den wir unser ganzes Leben lang nicht mehr vergessen werden.

    Die anschließende Debatte: Unter dem Titel „Dunkle Materie“ spricht die Regisseurin des Films mit dem argentinischen Kritiker und Festivalmacher Roger Koza und der aus Südafrika stammenden Künstlerin Kitso Lynn Lelliot über die Frage, ob es nicht auch unseren kolonialistischen Trieben dient, zwar nicht mehr die ganze Welt erobern, sie dafür aber im Kino sehen zu wollen. Ein Gespräch über das Dunkle der Bilder, das man nicht durchschauen, dafür aber erfühlen kann.

    Factory 25, LLC.

    Samstag, 9. Februar um 20 Uhr:

    „Maman, Maman, Maman” von Lucia Margarita Bauer & „The Great Pretenders von Nathan Silver

    Darum geht's: Während Lucia Margarita Bauer ihre Familie in einen mit den üblichen Erzählformen des Genres brechenden Essay überführt, handelt „The Great Pretender“ von den romantischen und philosophischen Irrungen und Wirrungen von vier an einem Off-Off-Broadway-Theaterstück beteiligten Personen…

    Das meinen wir: „The Great Pretender“ ist so sehr New York, wie es ein Film wohl nur sein kann. Schon auch schmerzhaft selbstbezogen wühlt Nathan Silver im kreativen Schlamm Sohos, aber das zumindest auf eine derart witzige, herzige und ausreichend selbstironische Weise, dass der Beziehungsreigen von schlimm selbstreflexiven Big-Apple-Slacker-Kreativen nicht nervt, sondern Spaß macht und in den stärksten Momenten sogar berührt. Irgendwo zwischen Mumblecore und den Werken von Noah Baumbach gibt es von dieser Art Film zwar inzwischen echt zu viele – aber „The Great Pretender“ gehört zumindest mit zu den ersten, die man sich davon ansehen sollte.

    Die anschließende Debatte: Die Regisseure beider gezeigten Filme gehen unter dem Titel „Erfindung mit gewissen Vorzügen“ der Frage auf den Grund, inwiefern man sich selbst ein Privileg verschafft, indem man zum Erzähler einer filmischen Geschichte wird - und so plötzlich mehr weiß als sein Publikum oder gar seine eigene Familie ins Zentrum eines filmischen Essays verpflanzen kann.

    Grand Motel Films

    Sonntag, 10. Februar um 20 Uhr:

    "Chained For Life" von Aaron Schimberg und "Roi Soleil" von Albert Serra

    Darum geht's: In „Chained For Life“ dreht ein deutscher Arthouse-Regisseur mit Werner-Herzog-Gedächtnisakzent einen offensichtlich ziemlich trashigen Horrorfilm – aber um seinen immensen künstlerischen Ambitionen gerecht zu werden, lässt er gleich eine ganze Busladung an missgestalteten Schauspielern herankarren. Die wunderschöne blonde Hauptdarstellerin Mabel (Jess Weixler) baut vor allem zu dem an Neurofibromatose leidenden Rosenthal (Adam Pearson) schnell eine persönliche Beziehung auf…

    Das meinen wir: 76 Jahre nach „Freaks“ verweist Aaron Schimberg schon allein durch die ständigen Zitate auf den bahnbrechenden Klassiker von Tod Browning. Zugleich verhandelt er das ebenso lang erprobte wie fragwürdige Konzept, vor der Kamera vor allem Schönheit und Hässlichkeit auszustellen (und am besten noch gegeneinander auszuspielen), auf eine sehr viel ambivalentere, selbstdiagnostische Weise. Natürlich geht es um Inklusion – aber wenn die missgestalteten Schauspieler zusammen in einem anderen Haus wohnen als die übrigen Beteiligten, dann liegt das natürlich nur daran, dass man sich dort besser um sie kümmern könnte. Angesiedelt in einer alten Villa an einem Horror-Set beginnt „Chained For Life“ dabei direkt mit einer betont trashigen Film-im-Film-Sequenz – mehr Meta als in diesen ersten Minuten geht kaum. Und trotzdem bleiben am Ende vor allem die zärtlichen Gespräche der so gegensätzlichen Protagonisten im Gedächtnis hängen – und der sonst hauptsächlich als Aktivist tätige Adam Pearson, der auch schon in „Under The Skin“ an der Seite von Scarlett Johansson gespielt hat, ist sowieso DIE Entdeckung des diesjährigen Programms.

    Die anschließende Debatte: Wer könnte wohl schöner unter dem ironischen Titel „Ein Sinn für Eitelkeit“ über den freudvollen Fall der Kinokunst sinnieren als Albert Serra, der in „Der Tod von Ludwig XIV.“ selbst dem Sonnenkönig seinen letzten Funken Eitelkeit ausgetrieben hat. Ebenfalls zu Gast: der Kunsthistoriker Horst Bredekamp

    Dienstag, 12. Februar um 20 Uhr:

    "Magic Skin" von Konstantinos Samaras

    Darum geht's: Der Schriftsteller Nikos (Haris Fragoulis) hadert mit sich und seinem eigenen Schaffen. Sogar am Selbstmord scheitert er. Stattdessen bietet ihm jemand eine magische Tierhaut an, die ihm jeden Wunsch erfüllen kann (allerdings zu einem Preis). Das hat Nikos mit der Hauptfigur aus Honoré de Balzacs Roman „Das Chagrinleder” gemein. Auf den faustischen Pakt folgt in „Magic Skin” eine Aneinanderreihung von Szenen ohne innere narrative Logik: exzessive Partys, nachgespielten Motiven aus Nikos’ Liebes-Roman und Zitate der Literaturgeschichte wechseln sich ab – besetzt mit Schauspielern, die völlig freidrehen. Regisseur Konstantinos Samaras, selbst Filmkritiker, inszeniert mit „Magic Skin” seinen ersten Spielfilm als wahnhaften, absurden Traum einer gequälten Schriftstellerseele.

    Das meinen wir: Die avantgardistische Gaga-Komödie hat als Trip ins überladene Künstler-Unterbewusstsein sicherlich ihren Reiz. Man kann die Konsequenz bewundern, mit der Samaras seine Figuren am Rad drehen lässt und die ganze Nummer als großes, an das sich selbst in ständigen Verweisen verlierende Kino deuten. In ihrer Redundanz ist diese Nabelschau eines larmoyanten Künstlers aber vor allem schmerzhaft nervtötend.

    Die anschließende Debatte: Es geht um Filme, bei denen einem schwindelig werden kann vor lauter Zitaten, Reflexionen und Exzess. Unter dem passenden Titel „Wahn und Wonne” diskutieren Filmregisseur Antonin Peretjatko („La Fille Du 14 Juillet”), Theaterregisseurin Susanne Kennedy und Filmkritikerin Devika Girish.

    Mittwoch, 13. Februar um 20 Uhr:

    "The Ambassador‘s Wife" von Theresa Traoré Dahlberg & "Sophia Antipolis" von Virgil Vernier

    Darum geht's: Die Frau des französischen Botschafters in Burkina Faso wollte eigentlich Opernsängerin werden, nutzt das Singen nun aber, um in ihrem vermeintlich privilegierten Leben, man könnte wohl auch Goldenen Käfig sagen, nicht den Verstand zu verlieren… Auch in „Sophia Antipolis“ geht es um die Suche nach Bedeutung, hier allerdings unter der blendenden Sonne der titelgebenden Gemeinde an der Côte d'Azur…

    Das meinen wir: Wir haben leider keinen der beiden Filme vorab gesehen.

    Die anschließende Debatte: Unter „Verpflanzen“ versteht man in diesem Gespräch das aus dem Zusammenhang reißen, von Menschen und Städten, die plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet werden. Mit dabei sind der deutsche Regisseur Ulrich Köhler („In My Room“) und Lili Hinstin, die neue Leiterin des Filmfestivals von Locarno (ihr Vorgänger ist ab 2020 der neue Berlinale-Programmchef).

    Essential Filmproduktion GmbH

    Donnerstag, 14. Februar um 20 Uhr:

    "Pretty Girls Don’t Lie" von Jovana Reisinger & "Das melancholische Mädchen" von Susanne Heinrich

    Darum geht's: Das melancholische Mädchen (Marie Rathscheck) lässt sich nicht vereinnahmen: Den Baby-Kurs besucht es ohne Baby und den Psychologen mit ausgeformter Selbstdiagnose. Es will Schriftstellerin sein, kommt aber nach „dem ersten Satz des zweiten Kapitels“ nicht weiter und braucht ständig einen neuen Platz zum Pennen. Zumindest in seiner Unsicherheit gegenüber allem, was andere für gegeben halten, ist es sich verdammt sicher. Lakonisch-frech und mit kultivierter Traurigkeit widersetzt sich diese Rebellin der Bohème, durchaus auf ätzende Art selbstfixiert. Yoga ist schließlich auch nur eine Form der Selbstoptimierung zu kapitalistischen Zwecken...

    Das meinen wir: Aufgeteilt in 14 kleine Episoden stellt uns Susanne Heinrich eine junge Frau vor, die gar nicht so einfach zu greifen ist, aber das ist ja auch klar, ist sie doch eine Idee, ein Klischee, eine Utopie. Gleich zu Beginn macht das melancholische Mädchen selbst klar, dass in dieser Geschichte keine Höhepunkte zu erwarten sind – wer eine anständige Melancholikerin ist, für den ist das Schlimme ja eh immer schon passiert. So wird aller dramaturgischer Ballast direkt beiseite geräumt. Vorm Laptop im Café, an der Bushaltestelle und in der Badewanne wird dann frech drauflos gegiftet – und zwar gegen alles, was in der modernen Welt Sinn und Glück stiften soll. Die Schauplätze sind wie abstrakte Theaterbühnen gestaltet und alle sprechen gestelzt, aber der zu Recht mit dem Max Ophüls Preis ausgezeichnete Film ist trotzdem erfrischend frei und erstaunlich lustig.

    Die anschließende Debatte: Wann ist ein Film eigentlich feministisch? Das fragen sich die Philosophin Nina Power („Die eindimensionale Frau”), der Filmemacher Whit Stillman („Love & Friendship“) sowie die Regisseurinnen der zwei Filme des Abends.

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