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    "1917" als One-Shot ohne Leonardo DiCaprio: Darum hat Sam Mendes seinen Oscar-Favoriten so gemacht

    „1917“ ist schon jetzt einer der außergewöhnlichsten Filme des Kinojahres. Wir haben mit Regisseur Sam Mendes über seinen spannenden Kriegsthriller gesprochen, der eine technische Meisterleistung ist und mit Newcomern in den Hauptrollen aufwartet.

    2019 Universal Pictures and Storyteller Distribution Co., LLC. All Rights Reserved.

    Seit mittlerweile zwanzig Jahren gehört Sam Mendes zu den großen Regisseuren Hollywoods, obwohl er gar nicht so viele Filme macht. Mit seinem Kinodebüt „American Beauty“ feierte er direkt den großen Durchbruch und gewann gleich einen Oscar als bester Regisseur (und auch der Film wurde als bester seines Jahrgangs ausgezeichnet). Mit den James-Bond-Krachern „Skyfall“ und „Spectre“ drehte er zuletzt zwei Kassenhits. Doch sein Meisterstück dürfte ihm erst jetzt gelungen sein: „1917“.

    In „1917“ erzählt Mendes die Geschichte zweier junger Soldaten, die im Ersten Weltkrieg auf eine gefährliche Mission geschickt werden: Sie müssen in einem Wettlauf gegen die Zeit eine Nachricht überbringen, bevor zahlreiche Kameraden in eine Falle und den sicheren Tod laufen. Mendes inszeniert seinen Kriegsthriller fast komplett ohne sichtbaren Schnitt, als wäre der Film in einer einzigen Einstellung gedreht worden.

    1917

    Als wir den Regisseur Ende 2019 in Berlin zum Interview getroffen haben, wussten wir noch nicht, dass „1917“ mit zehn Oscarnominierungen zu einem der großen Favoriten des bedeutendsten Filmpreiseses werden würde. Doch dass wir über einen besonderen Film sprechen, wussten wir.

    Und auch wenn die Machart des scheinbar fast schnittlosen Films einen großen Teil des Gesprächs einnimmt, wollten wir von dem Regisseur noch mehr wissen. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der jungen Autorin Krysty Wilson-Cairns, die nun direkt für ihren ersten Kinofilm für den Oscar nominiert wurde? Wie schwer war es, trotz des Budgets von angeblich 90 Millionen Dollar nahezu unbekannte Hauptdarsteller durchzusetzen? Und warum stehen im Abspann bei den visuellen Effekten gefühlt mehr Namen als bei „Avengers: Endgame“ und „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers“ zusammen?

    Die emotionale Entscheidung hinter der Inszenierung

    FILMSTARTS: Wir müssen dich natürlich gleich direkt zum Anfang fragen, wie ihr es hinbekommen habt, dass die Schnitte nicht sofort zu erkennen sind und es wie ein großer One-Take wirkt.

    Sam Mendes: Ganz einfach: Es ist nur eine einzige Aufnahme. Nein, im Ernst. Ein bisschen Magie, ein bisschen Vorbereitung, eigentlich ziemlich viel Vorbereitung.

    Wir haben sechs Monate daran gearbeitet, bevor wir überhaupt mit dem Drehen angefangen haben. Wir haben extrem viel mit den Schauspielern geprobt, sehr früh mit ihnen erarbeitet, wo sie lang laufen müssen, wie weit die Wege sind und ganz wichtig dabei: Wir haben die Beziehung zwischen der Kamera und den Schauspielern herausgearbeitet.

    Aber wichtig ist mir: Es war eine emotionale Entscheidung, auf diese Weise zu drehen. Es geht darum, die Zuschauer mit den Figuren zu verbinden. Ich will nicht, dass das Publikum über die Kamera nachdenkt, ich will, dass es sich darüber Gedanken macht, was die Figuren erreichen wollen.

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    FILMSTARTS: Als du die Idee dem Studio vorgestellt hast, müssen sie dich aber für verrückt gehalten haben…

    Sam Mendes: Um ehrlich zu sein: Dass wir zumindest versuchen wollten, die Grenzen, was bisher gemacht wurde, zu dehnen, war eine der Sachen, die sie am interessantesten gefunden haben.

    Es gibt natürlich – gerade in der jüngeren Vergangenheit – einige One-Shot-Filme, auch einige brillante wie „Birdman“, aber ich denke, das ist der erste Film, in dem sich über so eine weite Strecke bewegt wird, in dem es so viele technische Elemente gibt. Aber das war nicht das Ziel des Films: Hätte die emotionale Geschichte nicht funktioniert, die Erzählung selbst, wäre es egal gewesen, wie wir ihn gedreht haben.

    Und diese emotionale Reise war mir am wichtigsten und ich bin der Meinung, dass das der beste Weg war, um das Publikum an diese Figuren zu binden: den Film wie in einem Durchgang zu drehen.

    Gedreht mit deutscher Technik

    FILMSTARTS: Ihr habe gehört, für den Film wurde sogar extra eine neue Kamera entwickelt?

    Sam Mendes: Es war früh klar, dass wir teilweise in sehr engen Bereichen drehen müssen. Sieh dir zum Beispiel die Szenen in den Schützengräben an. Diese Gräben sind eng und dann laufen die ganzen Menschen da noch rum. Das Problem war weniger, den Personen mit der Kamera zu folgen, sondern den entgegenkommenden die Möglichkeit zu geben, uns zu passieren. Dann geht es auch noch in die Fuchslöcher und die Unterstände, in allerlei Löcher und Gräben.

    Und uns wurde klar, dass man eine kleinere Kamera braucht, als es momentan auf dem Markt gibt. Und so ist Roger Deakins [Anm.: der aktuell vielleicht beste Kameramann Hollywoods] zu ARRI nach München gefahren. Die haben zufällig gerade an einem neuen Modell einer kleineren Kamera gearbeitet und uns die Prototypen überlassen. Zum Glück, denn wir haben eine Menge Sachen gemacht, die wir sonst nie hätten drehen können.

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    Das war dann übrigens teilweise recht komisch. Du hattest den über 60 Meter großen Kran und ihr kennt ja alle diese typischen Hollywood-Bilder, wo daran dann die große Panavision-Kamera hängt. Aber wir hatten diesen riesigen Kran und daran hing dann diese winzige „Streichholzschachtel“, die in Wirklichkeit ungefähr so groß wie ein Radio war.

    Aber die mit dieser Kamera entstandenen Bilder sind trotzdem sensationell. Es ist unglaublich, dass eine Kamera dieser Größe solche Bilder machen kann.

    Lange Takes, wenige Schnitte

    FILMSTARTS: Wie habt ihr eigentlich entschieden, wie lang jeder Take ist, wann ihr abbrecht und neu ansetzt?

    Sam Mendes: Es war meistens eine emotionale Entscheidung. Du kannst natürlich nicht mitten in einer Todesszene oder einer anderen emotionalen Situation abbrechen. Du musst diese Wellen an Gefühlen voll mitnehmen. Manchmal war es aber auch eine technische Entscheidung, weil du zum Beispiel die Kamera von einer Aufhängung zur anderen wechseln musstest, zum Beispiel von einem Kabel auf einen Kran, von einer tragbaren Steadycam zu einer auf einem festen Stativ.

    Und dann spielten natürlich die Locations eine Rolle. Wir haben nicht alles direkt nebeneinander gefunden, sondern mussten natürlich zwischendrin den Drehort wechseln.

    Aber auch das ändert nichts daran: Es gibt nicht viele Schnitte. Es sind wirklich sehr, sehr lange Takes.

    FILMSTARTS: Wie lange sind die Aufnahmen immer am Stück?

    Sam Mendes: Ich denke, die längste Szene dauert etwa elf Minuten, aber die meisten sind so im Bereich von acht bis zehn Minuten und dann gibt es noch ein paar, die etwas komplizierter waren und die wir daher etwas kürzer machen mussten.

    Eine neue Stimme durch eine junge Autorin

    FILMSTARTS: „1917“ überzeugt aber nicht nur mit diesem One-Shot-Ansatz, sondern hat eine unglaublich kraftvolle Geschichte. Diese stammt auch aus der Feder von Krysty Wilson-Cairns. Ich nehme mal an, du hast sie bei den Arbeiten an „Penny Dreadful“ [Anm.: bei der von Mendes produzierten Serie gehörte sie zum Autorenteam] kennengelernt. Wie kamst du auf die Idee, bei diesem Projekt mit einer bislang noch unbekannten, jungen Drehbuchautorin zusammenzuarbeiten?

    Sam Mendes: Ja, ich habe sie bei „Penny Dreadful“ kennengelernt und habe dann direkt mit ihr an einer anderen Idee gearbeitet. Dieser andere Film ließ sich aus verschiedenen Gründen dann zwar nicht realisieren, aber ich habe die Zeit mit ihr genossen.

    Vor allem aber überzeugten mich folgende Gründe von einer Zusammenarbeit. Erstens: Sie denkt schnell! Zweitens: Sie ist eine Frau! Und drittens: Sie ist jünger als ich! Und all das war mir wichtig. Ich wollte nicht mit einem Mann meines Alters mit denselben Erfahrungen zusammensitzen, der die Welt aus genau derselben Perspektive sieht. Das wäre dann eine Echo-Kammer gewesen. Ich brauchte jemand, der aus einer ganz anderen Richtung kommt.

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    Was ich nicht wusste, bevor ich mit ihr das erste Mal über das Projekt gesprochen habe: Krysty ist ein unglaublicher Kriegsgeschichte- und Kriegsfilm-Geek. Sie hatte daher schon unglaubliches Vorwissen und konnte sich direkt in das Projekt stürzen.

    Sie war am Ende ein unglaublich wichtiger Teil des Prozesses, denn sie war jeden Tag am Set und hat uns unterstützt. Ich bin eigentlich selbst ja kein Autor, habe hier nur das Treatment geschrieben, aber zu einem richtigen Drehbuch hat erst sie das alles gemacht.

    Die Geschichte von Mendes‘ Großvater

    FILMSTARTS: „1917“ ist auch ein unglaublich persönliches Projekt für dich…

    Sam Mendes: Ja, mein Großvater hat im Ersten Weltkrieg zwischen 1916 und 1918 gekämpft und als ich ein Junge war, hat er uns diese Geschichten über seine Zeit erzählt, als er mit 17 Jahren in den Krieg zog.

    Der Film ist nicht über meinen Großvater, aber er existiert wegen ihm. Es sind seine erzählten Geschichten, die mich mein ganzes Leben begleiten und die so präsent waren, dass ich das Gefühl hatte, ich muss sie nach draußen bringen.

    Es sind keine Geschichte über Heldentaten oder Mut, es sind Geschichten über Glück und Zufall, darüber, wie dünn die Linie zwischen Überleben und Sterben ist. Ein Freund von ihm wurde direkt neben ihm stehend getötet. Das blieb sein ganzes Leben an ihm haften.

    Oder: Als Kind habe ich mich immer gewundert, warum mein Großvater so exzessiv seine Hände wäscht, bis mir mein Vater erklärt hat, dass er sich an den Schlamm aus den Schützengräben erinnert, den man nie wegbekommen hat.

    Dass der Krieg immer noch so präsent im Leben eines 75 Jahre alten Mannes war, blieb mir nachhaltig in Erinnerung und hat mich inspiriert.

    So hat Peter Jackson die Recherche abgenommen

    FILMSTARTS: Habt ihr euch andere Filme über den Ersten Weltkrieg angeschaut? Gerade Peter Jacksons Doku „They Shall Not Grow Old“ kam ja nur wenige Monate vor eurem Drehstart raus.

    Sam Mendes: Ja, ich habe direkt sichergestellt, dass die ganze Crew ihn schaut. Wir waren schon mitten in der Vorproduktion und da war es sehr hilfreich. Es war, als hätte jemand einen ganzen Haufen Recherche für uns erledigt.

    Daneben haben wir aber nicht viele andere Filme betrachtet. Natürlich hatte jeder schon „Wege zum Ruhm“ gesehen. Das ist ein Meisterwerk, aber unser Film ist ganz anders. Und es gibt auch nicht so viele Filme, die wie „1917“ sind.

    Wir haben uns daher hauptsächlich Fotografien angeschaut, eine endlose Anzahl an Fotos. Ich habe einen großen Recherche-Ordner mit sicher hunderten Fotos angelegt, von denen ich glaubte, dass sie für einzelne Teile des Films wichtig sein könnten.

    Darum sehen wir nicht Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle

    FILMSTARTS: Du hast zwei junge, noch relativ unbekannte Schauspieler in den Hauptrollen. Das ist bei einem originären und so teuren Film, der nicht auf einer Marke beruht, ein ganz schönes Risiko. Da drängen Studios doch meist eher auf einen Star?

    Sam Mendes: Für mich sind die beiden Hauptfiguren zufällige Helden und das wollte ich auch mit der Besetzung erreichen. Ich habe zwei Schauspieler, die das Publikum wahrscheinlich noch nicht kennt, bei denen es auch nicht sicher weiß, ob sie überleben. Wenn du Leonardo DiCaprio als eine der Figuren hast, dann gibt es eine ziemlich gute Chance, dass er bis zum Ende durchhält.

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    Ich wollte auch das Gefühl erzeugen, dass es gerade zwei zufällige Männer aus Millionen sind. Ich wollte zudem auch keine direkte Botschaft vermitteln. Es geht um eine Reihe von Erfahrungen, es ist keine Geschichtsstunde, kein politischer Film und vor allem kein nationalistischer Film. Es hätten auch zwei belgische, zwei französische oder sogar zwei deutsche Soldaten sein können. Das macht keinen Unterschied.

    Wenn sie dem Feind, was hier die Deutschen sind, begegnen, dann sind das daher auch genau wie sie einfach Jungen. Und wenn Schofield einen anderen Soldaten tötet, ist der genauso angsterfüllt und verwirrt wie er selbst. Es gibt daher auch keinen Bösewicht.

    Wie schneidet man einen Film ohne sichtbare Schnitte?

    FILMSTARTS: Lass uns zum Ende noch einmal kurz auf den One-Shot-Ansatz zurückkommen. Wie umfangreich war deswegen eigentlich die Post-Produktion? War der Schnitt bei einem Film ohne sichtbare Schnitte einfacher? Und ich habe im Abspann gesehen, dass unglaublich viele Leute an den Spezialeffekten beteiligt waren. Die Liste hörte gar nicht mehr auf, da stehen viel mehr Namen als man sonst selbst bei großen, effektelastigen Blockbustern sieht.

    Sam Mendes: Der eigentliche und unbesungene Held des Films ist unser Editor Lee Smith. Und du denkst jetzt vielleicht, dass ein Film ohne Schnitt eine einfache Aufgabe für einen Editor ist, aber es war im Gegenteil unglaublich hart.

    Wir haben den Film größtenteils chronologisch gedreht und Lee musste jedes Mal nach dem Tag die Aufnahmen zusammenbasteln, eine Arbeitsmusik drunter legen und mir zurückschicken. Denn am nächsten Tag haben wir uns den Film bis zu dem Zeitpunkt angeschaut, wo wir jetzt sind, um den Rhythmus und den Fluss in die nächste Sequenz mitzunehmen.

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    Das war unglaublich nützlich, um die Energie der vorherigen Szene noch einmal zu fühlen und mitzunehmen. Wir haben zum Beispiel den Moment, in dem der eine Soldat im Wald singt. Das ist eine eher langsame Szene. Um den Mut aufzubringen, sich diese Zeit zu nehmen, war es hilfreich, zu fühlen, wie die vorherige Sequenz war und zu erkennen: Wir können uns diese Zeit jetzt nehmen, weil wir gerade diese Verfolgungsjagd hatten.

    Und es ist ein großer Unterschied, ob man sich diese Dinge sonst nur vorstellt, dann aber erst in der Post-Produktion am Tempo feilt, oder ob man sie wie hier direkt beim Dreh sieht.

    Darum stammt so viel aus dem Computer

    FILMSTARTS: Und die visuellen Effekte?

    Sam Mendes: Oh ja, da waren auch mehr Namen gelistet als ich erwartet hatte. Ich glaube nicht, dass ich all diese Leute jemals getroffen habe.

    Die visuellen Effekte haben dabei gar nichts mit den Übergängen zwischen den gedrehten Sequenzen zu tun, sondern es ging hauptsächlich um die Umgebung. Sie mussten die Landschaften erweitern oder Dinge entfernen, den Raum im Hintergrund füllen, zum Beispiel ein Dorf in der Ferne einbauen.

    Das war dann doch deutlich umfangreicher und herausfordernder als ich gedacht hatte, was auch an unserem Ansatz liegt. Man sieht die Gegenden nicht einfach nur für drei Sekunden, sondern wir lebten darin wirklich. Die Kamera bewegt sich, du siehst alles aus mehreren Blickwinkeln.

    Ich dachte ursprünglich, wir würden das meiste schon beim Dreh selbst fertig haben, der Dreh würde reichen, aber das war dann absolut nicht so. Es brauchte eben doch noch viel Post-Produktion.

    „1917“ läuft seit dem 16. Januar 2020 in den deutschen Kinos.

    "1917” im FILMSTARTS-Podcast Leinwandliebe

    Auch in der aktuellen Folge unseres eigenen Podcasts Leinwandliebe geht es um „1917“ (sowie übrigens in der zweiten Hälfte um das Oscarrennen). Darin spricht Moderator Sebastian Gerdshikow wöchentlich mit FILMSTARTS-Redakteuren über den großen Kinofilm der Woche und ein wichtiges Newsthema. Abonniert uns gerne in eurer Podcast-App. Falls wir euch gefallen, gebt uns Sterne und erzählt anderen von der Leinwandliebe. Feedback werdet ihr am besten unter leinwandliebe@filmstarts.de los.

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