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    "365 Days 2": Ausgerechnet die 2 dümmsten Sätze des Films entlarven die Netflix-Heuchelei
    Benjamin Hecht
    Benjamin Hecht
    -Redakteur
    Hat auf Netflix schon viele schöne Stunden verbracht: Zu seinen Highlights zählen die Sci-Fi-Dystopie „Black Mirror“ und die Comedy „Bojack Horseman“.

    Netflix hat „365 Days: Dieser Tag“ im Vergleich zur Vorlage arg entschärft. Dabei ist es ausgerechnet der dümmste Dialog im ganzen Film, der die feige Doppelmoral des Streaming-Dienstes deutlich macht.

    Netflix/Karolina Grabowska

    +++ Meinung +++

    365 Days 2: Dieser Tag“ ist ein schlechter Film. Das habe ich auf FILMSTARTS schon an mehreren Stellen erklärt, weshalb ich mir eine umfassende Erörterung an dieser Stelle spare (Neugierige werfen einen Blick in meine Kritik). In diesem Artikel will ich mich mal auf einen Aspekt des Films stürzen, den ich bisher noch nicht ausreichend behandelt habe: Netflix' feigen Umgang mit dem fragwürdigen Erbe des Vorgängers „365 Days“.

    Der Streaming-Dienst stand bei der Produktion von „365 Tage 2“ nämlich vor einem großen Dilemma. Einerseits war der erste Teil, der ohne Netflix-Beteiligung produziert und erst später vom Anbieter eingekauft wurde, extrem erfolgreich. Aus finanzieller Sicht stand es also wohl gar nicht zur Debatte, keine Fortsetzung zu bringen. Andererseits hat der Erotik-Thriller aber auch eine heftige Kontroverse um die erotisch-romantische Verklärung von Gewalt an Frauen herbeigeführt. Da Netflix großen Wert darauf legt, als liberal und fortschrittlich zu gelten, beißt sich der Inhalt von „365 Tage“ mit dem Firmenimage. Was also tun?

    Netflix wählte den Weg des geringsten Widerstandes und ließ eine abgeschwächte Version der Romanvorlage drehen, in der die Protagonistin Laura (Anna Maria Sieklucka) mal so tun darf, als wäre sie eine selbstbestimmte Frau. Dass dieser Spagat aber nicht mal im Ansatz überzeugt, beweist ein strunzdämlicher Dialog, der sich etwa nach einer halben Stunde des Films zwischen Laura und Massimo (Michele Morrone) abspielt.

    Laura fasst die Netflix-Heuchelei perfekt zusammen

    In der Szene spricht Laura mit Massimo darüber, dass sie sich mehr Freiheit und Eigenständigkeit in der Beziehung wünscht. Wie ironisch das ist, solche Forderungen an den Mann zu stellen, der sie einst ganz bewusst ihrer Freiheit und Eigenständigkeit beraubte, merkt sie dabei nicht. Das Gespräch geht etwas länger, lässt sich aber im Grunde auf die folgenden beiden, von Laura geäußerten Sätze runterbrechen:

    „Du hast mich entführt und das ist krank. Aber ich habe mich in dich verliebt und wir sind zusammen, weil ich es so will.“

    Dass in „365 Days 2“ keine geschliffenen Wortgefechte wie bei Aaron Sorkin oder Quentin Tarantino auf mich warten würden, war mir allerspätestens klar, als der erste Satz des Films „Ich habe kein Höschen an“ lautete. Doch die obigen Dialogzeilen haben meine Erwartungen dennoch unterboten. Ich konnte einfach nicht glauben, wie plump die Netflix-Fortsetzung den Elefanten im Raum einfach unter den Teppich kehrte. Dumm nur, dass ein Teppich ein denkbar schlechter Ort ist, um einen Elefanten zu verstecken...

    "365 Days 3" auf Netflix: So heftig geht es in der Fortsetzung des Erotik-Thillers weiter – und so bald könnte sie erscheinen

    Mit minimalem Aufwand wird in jenen beiden Sätzen der Vorgänger verurteilt und zugleich deutlich gemacht, dass nun ja alles anders sei und Laura in der Beziehung die Hosen anhat. Der Sinneswandel von Laura kommt aus dem Nichts und Alpha-Macho Massimo wirkt in diesem Gespräch seltsam unterwürfig, was nun gar nicht seinem zuvor etablierten Naturell entspricht. 

    Zur Tatsache, dass eine Frau sich in ihren Entführer verliebt (!) hat und ihn sogar heiratet (!!), hat jedoch weder Laura noch jemand anderes im Film noch irgendetwas hinzuzufügen. Hätte Netflix ein ernsthaftes Statement gegen dem Vorgänger setzen wollen, hätte dieser Punkt deutlich besser aufgearbeitet werden müssen.

    Eine halbherzige Fortsetzung

    Klar wären dafür deutliche Änderungen an der Romanvorlage nötig gewesen, aber die hat der Streaming-Dienst an anderer Stelle ja auch vorgenommen: So bleibt das Buch „365 Tage: Dieser Tag“ dem Thema seines Vorgängers treu, indem Laura darin gegen ihren Willen von Nacho betäubt, entführt und gefangen gehalten wird. In der Netflix-Adaption ist es hingegen die Frau, die sich bewusst entscheidet, mit Massimos Rivalen abzuhauen. Das reicht aus, um den Film weniger skandalös zu machen und Besserung zu suggerieren – besonders mutig ist das aber nicht.

    "365 Days 2" gibt's auf Netflix nur entschärft: So viel krasser ist die Erotik-Geschichte in der Buchvorlage

    Netflix scheut sich davor, die Geschichte des Romans originalgetreu zu adaptieren, hat aber auch nicht den Mumm, den Ausgangsstoff wahrhaft kritisch zu reflektieren. Der Anbieter will einerseits einen Imageschaden vermeiden, andererseits aber auch nicht die Fans des Vorgängers vergraulen.

    Doch wenn „365 Days“ wirklich moralisch so verwerflich ist, dass die Fortsetzung umgedichtet werden musste, um mit den Firmenidealen konform zu gehen, wäre es dann nicht konsequenter gewesen, komplett auf den Film zu verzichten, dessen Erfolg ohnehin nur auf den problematischen Inhalten des Erstlings basiert?

    Natürlich schlagen Unternehmen meist den Weg ein, von denen sich die Verantwortlichen das meiste Geld erhoffen, und wahrscheinlich war es aus Sicht des Streaming-Anbieters sogar der lukrativste Mittelweg, mit der Marke umzugehen. Doch es ist eben gerade diese Halbherzigkeit, die „365 Days 2“ vor Heuchelei triefen lässt – auch wenn das bei Weitem nicht das größte Problem des Netflix-Hits ist.

    Zum Glück gibt es auch noch gute Erotik-Filme. Einen davon hat Kollege Daniel kürzlich vorgestellt:

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