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    Belfast
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Belfast

    Ein ganz persönlicher Oscar-Favorit

    Von Madeleine Eger

    Vermutlich hätte es das im von Gewaltausbrüchen geprägten nordirischen Sommer 1969 angesiedelte Schwarz-Weiß-Drama „Belfast“ ohne die Corona-Pandemie gar nicht gegeben. Erst als die Welt im Zeitvakuum zu verharren begann, brach bei Kenneth Branagh etwas hervor, das zwar nicht vergessen war, aber zumindest Jahrzehnte in ihm vor sich hinschlummerte. Ohne neue Projekte in der Pipeline verpasste der Lockdown auch dem damals 60-Jährigen eine Zwangspause, die es ihm ermöglichte, sich intensiver mit seiner eigenen Kindheit in der konfliktbehafteten nordirischen Hauptstadt auseinanderzusetzen.

    Zwischen Shakespeare-Adaptionen („Henry V“, „Viel Lärm um nichts“) und CGI-lastigen Blockbustern („Thor“, „Mord im Orient-Express“) ist „Belfast“ deshalb auch das bisher persönlichste Werk des Regisseurs, Schauspielers und Theaterstars, das nach seinen Erstaufführungen bei den Festivals in Telluride und Toronto, wo es zudem den wichtigen Publikumspreis gewann, sofort als heißer Oscar-Kandidat gehandelt wurde.

    Die pure Unschuld der Kindheit, Sekunden bevor sie jäh erschüttert werden wird.

    Buddy (Jude Hill) wächst gemeinsam mit seinem älteren Bruder Will (Lewis McAskie) als Protestant im Belfast der späten 1960er-Jahre auf. Ihre Eltern, die im Film einfach nur Ma (Caitriona Balfe) und Pa (Jamie Dornan) genannt werden, sowie seine Großeltern, die ebenfalls mit den Bezeichnungen Granny (Judi Dench) und Pop (Ciarán Hinds) auskommen müssen, tun dabei alles, um die Jungen durch die bürgerkriegsähnlichen Auswüchse des Nordirlandkonflikts zu manövrieren. Kino und Theater werden zum Fluchtort in eine andere, friedlichere Welt, während die erste romantische Schwärmerei für eine Mitschülerin bei Buddy für ein noch größeres Durcheinander der Gefühle sorgt…

    Die Liebe, die Kenneth Branagh zu seiner Heimatstadt hegt, ist von den ersten Bildern an sofort spürbar. Mit einem Kameraflug voll intensiv-leuchtender Farben fängt er die städtische Kulisse des heutigen Belfast mit ihren markanten Eckpunkte ein. Die Tour endet an einem Wandgemälde auf einer der Friedensmauern, die einst die protestantischen und katholischen Viertel voneinander getrennt haben – ein offensichtlich symbolisch aufgeladenes Bild, das die bewegte und blutige Geschichte der Stadt widerspiegelt. Nach diesem kurzen Intro springt Branagh aber auch direkt mit uns in (s)eine Vergangenheit – über die Mauer in sein altes Viertel, das er in ein sattes Schwarz-Weiß taucht.

    Der (frühe) Verlust der Unschuld

    Trotz der grauen Farbtöne ist die Stimmung ausgelassen. Auf der Straße spielen die Kinder, es wird getanzt und gelacht. Es gibt keinen Hinweis darauf, mit welcher Wucht die Atmosphäre schon in wenigen Sekunden umschlagen wird. Auch nicht für den neunjährigen Buddy, der sorglos mit hölzernem Schwert und Schild durch die Straße zieht und sich dann ganz plötzlich in einer ebenso ohrenbetäubenden wie traumatisierenden Geräusch- und Bilderkulisse wiederfindet, die auch direkt aus einem Kriegsfilm stammen könnte.

    Kenneth Branagh lässt da direkt in den ersten Szenen etwas Bedrohliches, kaum Greifbares auf Buddy zurollen, das sich langsam zu einem dichten, für ihn kaum zu durschauenden Nebel aus Gewalt formt und ihn fortan sein ganzes Leben nicht mehr ganz loslassen wird. Sowieso gelingt es Branagh immer wieder auf ebenso bemerkenswerte wie bewegende Weise, die Ereignisse aus einer kindlichen, aber deshalb nicht automatisch auch naiven Perspektive zu schildern – so versteht man als Zuschauer*in erst wirklich, wie einschneidend solche Erfahrungen für den jungen Protagonisten sein müssen.

    Das Kino ist ein zuverlässiger Zufluchtsort für Billy und seine Familie.

    „Belfast“ etabliert so eine sehr feinfühlige und äußerst nahbare Perspektive, wo Kinder im jungen Alter nach Antworten, Wissen und Verständnis suchen, aber zugleich so gut es geht von den Problemen der Erwachsenen abgeschirmt werden, um ihnen zumindest ein gewissen Maß an Normalität und Stabilität zu erhalten. Aus kurzen Nachrichten- und Gesprächsfetzen sowie der veränderten Stimmungslage versucht der Neunjährige aber dennoch, sein eigenes Weltverständnis zu formen. Dieses diffuse Gefühl zwischen Rückzug und Konfrontation, zwischen Unbedarftheit und Besorgnis bringt Branagh auf fantastische Weise auf die Leinwand.

    Zugleich porträtiert der Regisseur eine ebenso liebevolle wie bedeutsame Familiendynamik. Das hochkarätige Ensemble um Jude Hill kreiert viele herzliche, fröhliche und ergreifende Momente, die uns die enge Bindung des Jungen zu seinen Großeltern, seine Heimatverbundenheit oder die Liebe zum Kino und Theater näherbringen. Oft sehr poetisch und immer wieder äußerst charmant, gipfelt „Belfast“ in einer der wohl schönsten Szenen des Films, in der Jamie Dornan („Fifty Shades Of Grey“) dann mit viel Herzblut für seine Frau „Everlasting Love“ zum Besten gibt. Eine Liebeserklärung nicht nur an einen besonderen Menschen, sondern auch über den Film hinaus an die Stadt und die Eltern des Regisseurs.

    Die Lücken der Erinnerung

    Ein kleiner Wermutstropfen bleibt aber. Denn auch wenn „Belfast“ zweifelsfrei fantastisch inszeniert ist und insgesamt sicher auf dem schmalen Grat zwischen politischer Historisierung, lebendigem Coming-of-Age und liebevollem Familienfilm balanciert, wirkt der Film an manchen Stellen dennoch etwas zusammengestückelt. Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass sich „Belfast“ ganz auf die Erinnerungen eines damals Neunjährigen stützt – und trotzdem werden einige Figuren und Konflikte durch die künstlich verengte Perspektive so weit eingeschränkt, dass sie eben nicht ihr volles Potenzial entfalten können.

    Fazit: Kenneth Branagh bändigt die Geister der Vergangenheit mit der Magie des Kinos und arbeitet seine Kindheitserlebnisse in einer trotz der tragischen Gewaltausbrüche wunderschön anzusehenden Hommage an seine Heimatstadt auf. „Belfast“ wirkt oft, als würde man sich durch ein altes Familienfotoalbum blättern, dessen Besitzer mit Stolz, Liebe, Ehrfurcht und Wehmut auf eine Zeit zurückblickt, die ihm alles bedeutet und die nur darauf wartet, von der Welt entdeckt zu werden.

    Wir haben „Belfast“ im Rahmen des Filmfest Hamburg 2021 gesehen.

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