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    Drive
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Drive
    Von Carsten Baumgardt

    Zur Not frisst der Teufel Fliegen. Aber in Hollywood muss sich der Leibhaftige nicht von solch schmaler Kost ernähren, schließlich kann er die Seelen ganzer Herrscharen von vielversprechenden, vorwiegend europäischen und asiatischen Filmemachern verspeisen, die mit großen Visionen in der Traumfabrik angeheuert haben, dort aber ihrer künstlerischen Integrität beraubt wurden. Was für ein Segen ist es da, dass der als inszenatorisches Wunderkind gehandelte Däne Nicolas Winding Refn, der sich durch Schocker wie die „Pusher"-Trilogie und andere harte Stoffe wie „Bronson" oder „Walhalla Rising" einen exzellenten Ruf erarbeitet hat, bei seinem US-Debüt „Drive" keine Kompromisse eingehen musste. Refn pfeift auf die Konventionen, die Neuankömmlingen oft schwer zu schaffen machen, und führt stattdessen sein Gesamtwerk konsequent fort. Sein grandioses Neo-Noir-Action-Drama „Drive" ist eine im Retro-Look der Achtzigerjahre gehaltene und stilistisch an Meisterwerke wie „Leben und Sterben in L.A." oder „Heat" angelehnte Unterwelt-Parabel von atemberaubender Brillanz: „Drive" ist poetisch, philosophisch, stylish und vor allem unglaublich cool.

    Sie nennen ihn alle nur den „Driver" (Ryan Gosling). Nicht ohne Grund, denn auf die Frage nach seinem Beruf antwortet er schlicht: „Ich fahre." Der Driver ist ein Multijobber. Hauptberuflich arbeitet er in Los Angeles in der Werkstatt von Shannon (Bryan Cranston) als bienenfleißiger Mechaniker, aber er hat auch noch andere Jobs, um sich über Wasser zu halten. So verdient er sich als Stuntfahrer in Hollywood-Filmen ein Zubrot und gilt außerdem in der kriminellen Szene als bester Fluchtwagenlenker weit und breit. Er geht mit größtmöglicher Abgebrühtheit vor und scheint keine Emotionen zu kennen. Aber als er seine neue Nachbarin Irene (Carey Mulligan) und deren kleinen Sohn Benicio (Kaden Leos) kennenlernt, fühlt sich der Driver gleich für die beiden verantwortlich, und es entwickelt sich so etwas wie Zuneigung zwischen ihnen. Kurze Zeit später kommt Benicios Vater Standard (Oscar Isaac) aus dem Knast und der Driver möchte ihm helfen, mit seiner kriminellen Vergangenheit abzuschließen. Um Standards Schuld beim Gangster Bernie Rose (Albert Brooks) endgültig auszulösen, überfallen der frisch entlassene Häftling und seine Kumpanin Blanche (Christina Hendricks) einen Pfandleiher, der Driver ist als Fahrer dabei. Dumm nur, dass der Strippenzieher Nino (Ron Perlman) ganz andere Pläne hat und die Aktion fürchterlich aus dem Ruder läuft...

    Gleich zu Beginn schreibt „Drive" Filmgeschichte. Wer wissen will, warum Nicolas Winding Refn beim Filmfestival in Cannes den Regiepreis gewann, braucht sich nur die Exposition seines furiosen Action-Dramas anzusehen. Der Däne zelebriert eine epische Verfolgungsjagd, die vor Intensität fast die Leinwand zum Bersten bringt – und das ganz ohne überkandidelte Crashs und ohne zu Schrott gefahrene Karossen. Stattdessen setzt Refn auf handgemachte und entsprechend realistische Stunts, dazu gönnt er sich raffinierte, stilvolle Zeitlupen – eine unfassbar gut inszenierte Eröffnung. Der Driver verzieht nach der Entdeckung durch die Polizei keine Miene und entkommt durch das virtuose Zusammenspiel von kühlem Kopf und durchgetretenem Gaspedal. Als er anschließend - begleitet vom hypnotischen Elektrosound des französischen Musikers Kavinsky - durch das nächtliche L.A. fährt, hat Regisseur Refn eine dichte, bedrohlich-melancholische Atmosphäre etabliert, der man sich bis zum Ende nicht entziehen kann.

    Das Drehbuch von Hossein Amini („Die vier Federn") nach dem Roman von James Sallis bedient vordergründig nur die Standards des B-Movies, ist dabei aber so geschickt strukturiert, dass sich der Sog der Bilder ohne Reibungsverluste entfalten kann. Perfekt durchkomponierte Szenarien und ein ausgeklügeltes Sound-Design sind hier wichtiger als Dialogfeuerwerke. Refn steigert mit jeder einzelnen Szene, jeder Einstellung und jedem spärlichen Satz die hypnotische Atmosphäre knisternder unterschwelliger Spannung, die sich am Ende unausweichlich in explosiver Gewalt entlädt. Der Skorpion auf der Jacke des Drivers steht symbolisch für alle Figuren: Sie tun, was sie tun müssen und können einfach nicht anders, als ihrer Natur zu folgen. Da aber zu viele Parteien mit zu unterschiedlichen Interessen aufeinanderprallen, ist eine friedliche Lösung von Beginn an ausgeschlossen.

    Refns Regie ist trotz seines unbedingten Stilwillens immer zielgerichtet und nie oberflächlich oder selbstzweckhaft, vielmehr bekommt sein Thriller durch das Zusammenspiel inszenatorischer Klarheit und erzählerischer Einfachheit einen existenzialistischen Touch, zu dem nicht zuletzt auch die archaische Kargheit der Figuren beiträgt. Refns namenloser Held, der Driver, erinnert nicht nur an Ryan O'Neals gleichnamigen Titelhelden in Walter Hills „Driver", sondern auch an den coolen Steve McQueen in „Bullitt" und an die Starrköpfigkeit eines Barry Newman als Driver Kowalski in dem Siebzigerjahre-Klassiker „Fluchtpunkt San Francisco". Refns Protagonist gibt sich kühl bis ans Herz: Der Driver ist wortkarg, hat weder Familie noch Vergangenheit, er macht einfach das, was er am besten kann: fahren! Mit der Präzision eines Uhrwerks wickelt er seine Aufträge ab, verliert kaum ein Wort, bis er sich zu seiner Nachbarin Irene hingezogen fühlt, was eine Kettenreaktion in Gang setzt, die in einem Gewaltexzess kumuliert.

    Der charismatische Alleskönner Ryan Gosling („Crazy Stupid Love", „Blue Valentine") holt aus der im Grunde völlig eindimensionalen Figur des Driver das Maximum heraus, weil schon geringste Regungen in seinem Gesicht ganze Bände sprechen. Dieses konsequente Unterspielen prägt den ganzen Film, dem Gosling stoisch seinen Stempel aufdrückt. Carey Mulligan („Wall Street: Geld schläft nicht") mag man das Liebchen eines zwielichtigen Kleinkriminellen dabei nicht auf Anhieb abnehmen, aber das lässt sie in der umso überzeugenderen Beziehung zu Goslings Driver schnell vergessen, in der ohne viel Worte die widersprüchlichsten Emotionen zum Ausdruck kommen. Zum Ausbruch kommen die Gefühle erst am Ende, wenn „Drive" in eine opernhafte Gewaltorgie mündet. Dabei spielen dann auch die begeisternden Nebendarsteller eine gewichtige Rolle. Neben Ron Perlman („Hellboy") als bulliger Gangsterboss, der sich nichts gefallen lässt, und dem formidablen „Breaking Bad"-Star Bryan Cranston als loyaler Freund des Drivers, gilt das auch für die heimliche Sensation des Films: Albert Brooks („Taxi Driver") spielt als Krimineller des „mittleren Managements" famos auf und zeigt eine charismatische Glanzleistung.

    Fazit: Arthouse meets Grindhouse - Nicolas Winding Refn hat mit seinem mitreißenden Action-Drama „Drive" ein mordsstarkes Bewerbungsschreiben für eine bedeutende Karriere in Hollywood abgegeben. Sein hypnotisches Neo-Noir-Meisterwerk ist das coolste Stück Zelluloid seit Jahren und der Stoff, aus dem Kultfilme gemacht sind.

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