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    Sci-Fi-Geheimtipp heute im TV: Diese albtraumhafte Zukunftsvision ist eine bildgewaltige Popkultur-Orgie
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Die Freuden dessen, dass in der Popkultur nichts und niemand verschwinden muss, gepaart mit dem Schrecken, dass medial nichts und niemand in Würde gehen gelassen wird: „Der Kongress“ ist Lobgesang und Klagelied zugleich – und läuft heute im TV.

    Die Marvel Studios verjüngen in ihren Filmen unentwegt große Stars. Im „Star Wars“-Universum werden verstorbene Schauspieltalente durch Digitaltricks wieder zum Leben erweckt. Und unter dem Disney-Banner folgt ein Nostalgiefest aufs nächste. Und nicht bloß das Haus der Maus erweckt solchen Eindruck:

    Regieschaffende „optimieren“ ihre Stars am Computer. Studios und Plattenfirmen akzeptieren den Tod nicht weiter als Grund für den kreativen Ruhestand. Tech-Firmen erschaffen immer komplexere, leichter zu bedienende Künstliche Intelligenzen, die bereits (virale) Hits generieren und uns Menschen zunehmend das „lästige“ Kreieren abnehmen sollen. Hauptsache, es gibt immer mehr zu konsumieren.

    Heute, am 19. August 2023, zeigt ONE ab 22.25 Uhr „Der Kongress– also den Film, der dies vorhergesagt hat. Die erstaunlich akkurate Sci-Fi-Satire, die auch ein visueller Rausch ist, gibt’s unter anderem als VOD bei Prime Video:

    Keine Sorge: Schlechte Laune ist bei dieser zielgenauen Medienkritik, die täglich akkurater wird, nicht Programm! Trotz Seitenhieben auf ärgerliche bis bedenkliche Medienentwicklungen bleibt „The Congress“ (dies ist der gängigere Titel des Films, unter dem er auch fürs Heimkino veröffentlicht wurde) inspirierend. Und in seiner verschrobenen, bildästhetischen Macht finden sich optimistisch-einfühlsame Passagen – zornerfüllte, technophobe Panikmache wie am Fließband müsst ihr woanders suchen.

    "The Congress": Bildgewaltige Popkulturorgie, stetig realer werdende Mahnung

    Robin Wright glaubt, dass ihre Tage im Rampenlicht gezählt sind: Als Frau in ihren Vierzigern bekommt sie immer seltener Angebote. Also beschließt sie, ein dorniges Angebot des Filmstudios Miramount anzunehmen: Gegen eine astronomische Gage will es Robin digital replizieren und sämtliche Verwertungsrechte an ihrer öffentlichen Persona übernehmen.

    Der gewaltige Haken an der Sache: Mit der Erschaffung der Robin Wright aus Einsen und Nullen muss die Robin Wright aus Fleisch und Blut ihr künstlerisches Schaffen einstellen. Da sie Geld benötigt, um die Behandlung ihres Sohns zu bezahlen, willigt Robin ein. 20 Jahre später ist sie in Vergessenheit geraten – ihr digitales Abbild aber ein massiver Star...

    Als „The Congress“ 2013 erschien, zeichneten sich bereits einige der heutigen Streitthemen bezüglich Medien, Kunst und Kultur ab. Dennoch wirkt das Gespräch, in dem ein Studiochef Robin Wright von den Vorzügen ihrer digitalen Kopie überzeugen will, heutzutage völlig anders:

    Wenn jemand, der mit der Kunstfertigkeit anderer Menschen Geld verdient, davon schwärmt, dass es eine Möglichkeit gäbe, nie mehr selbst Kunst schaffen zu müssen, werden zwangsweise Erinnerungen wach. Erinnerungen an die ebenso euphorietrunkenen wie stumpfen Ansprachen von Typen, die schwärmen, Künstliche Intelligenzen würden Kunst „demokratisieren“ und den angeblich ungewollten Schöpfungsprozess tilgen.

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    Dass kreativ tätige Menschen gerne malen, zeichnen, schauspielen, schreiben, musizieren oder auf sonstigem Weg ihrer Fantasie nachgehen, wollen oder können sie nicht verstehen. Robin wird in „The Congress“ angeregt, Golf zu spielen, statt ihrer Profession nachzugehen – ihre Erwiderung, sie wolle gar nicht Golf spielen, begreifen die Männer um sie herum nicht.

    Studiobosse, die nicht von den Bedürfnissen der für sie arbeitenden Menschen behelligt werden wollen, erhalten nunmehr Rückendeckung. Nämlich durch Leute, die nicht kapieren, weshalb Kreative nicht mit aller Macht darum betteln, zügig ersetzt zu werden. Dickschädel, die nur einen immer schnelleren Strom an Content wollen, der sie an Dinge erinnert, die sie schon kennen. Der mangelnde Funken Inspiration, die ausgelöschte Befriedigung durch künstlerische Betätigung, der Umstand, dass KI nicht kreieren, sondern aus Bergen an Vorlagen stehlen und ein Ergebnis auswürfeln? Nicht von Interesse!

    Die Präzision, mit der Regisseur Ari Folman in „The Congress“ nach einer Vorlage von Stanisław Lem die KI-Kunst-Diskussion vorweggenommen hat, ist faszinierend. Derart, dass die ebenso auftauchenden Bonmots über die ungerechte Behandlung von Schauspielerinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen fast überschattet werden.

    Umso stärker glitzern die unablässigen Spielereien mit etablierter Ikonografie: Nach dem Hinter-den-Kulissen-des-Filmgeschäfts-Drama wird Folmans Hybrid aus Real- und Trickfilm zu einem ästhetischen Rausch, in dem Stilepochen atemberaubend verschmelzen. Der titelgebende, in einem futuristischen Art-déco-Wolkenkratzer abgehaltene Kongress ist bespickt mit vibrierenden Popkultur-Stilelementen und wuselnden Karikaturen solcher Größen wie Marilyn Monroe und Clint Eastwood. All das, während hinter den Kongresskulissen eine Micky-Maus-Ofenfratze mahnend auf bucklige Zeichner blickt.

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    Der wilde Wust an offen zur Schau gestellten Referenzen bekommt in unserer Medienepoche, die von „Intellectual Property“ besessen ist, einen neuen Beigeschmack: Was 2013 eine groteske Popkulturorgie irgendwo zwischen befremdlich und fesselnd war, lässt Folman jetzt als Nostradamus dastehen. Selbstredend wünscht sich ein mit immer mehr Firmen verschmelzendes Studio eine Welt, in der das Publikum allein schon deshalb großes Glück empfindet, weil es triumphierend auf alles zeigen kann: „I Understood That Reference!“

    Neben diesen unbequemen Zukunftsvorhersagen enthält der Film Elemente, die so kurios gealtert sind, wie wir es von den „Simpsons“ kennen – aus kleinen Scherzen am Rand werden zufällig Prognosen: Natürlich ist Tom Cruise der letzte große Star-Schauspieler Hollywoods! Und woher wusste Folman schon 2013, dass es eine Zukunft gibt, in der Filmfans total von einem Actionspektakel namens „RRR“ besessen sind?!

    Die Menschlichkeit dahinter

    Obwohl „The Congress“ von einer kritisch spekulierenden Mediensatire zu einer scharfsinnigen Zukunftsprognose mutierte: Folman hat keinen grantigen Film geschaffen, der technologieavers eine desolate Dystopie skizziert, und Kunst zerreißt, die offen ihre Inspirationen aufzeigt. Sein Sci-Fi-Trip ist durchaus ein inniges Loblied auf Kreativität und alles, was sie bedingt – von Familienbindungen bis hin zu Inspirationen durch andere Kunst, Technologie oder Geschichte.

    Der popkulturelle Klang- und Bilderreigen, den zahlreiche Kreative aus unterschiedlichsten Trickstudios diverser Länder erschaffen haben, ist voller Querverweise auf Hitchcock, Kubrick, Disney, die für Spinat-Muskelmann Popeye verantwortlichen Fleischer Studios und Meisterwerke anderer Kunstformen. Folman und sein Team haben allerdings weder eine Nostalgiebombe gezündet, um Wall Street davon zu überzeugen, dass ein Mediengigant weiterhin profitabel sein kann. Noch haben sie einer KI gleich stumpf geklaut. Sie verfolgen stattdessen eine schwer zu erklärende, intuitiv verständliche Vision, die sich über uns ergießt und uns verändert.

    Der Unterschied zwischen „The Congress“ und unbeseelten Referenzparaden ist der differenzierende Faktor, den die Figuren in „The Congress“ miterleben. Ja, die technologisch immer aufwändigere Flut an von Jugendwahn geprägtem, nostalgischem Eskapismus-Content agiert zuweilen als Opium für's Volk.

    Doch Medien sind nur dann eine Droge mit betäubender Wirkung, wenn sie falsch eingesetzt werden. Der rote Faden dieser Geschichte, Robins feinfühlige Mutter-Sohn-Beziehung, erinnert derweil daran, dass fortschreitende Technologien und nostalgisch zurückblickende Inhalte sehr wohl Kunst formen können, die emotional erfüllend ist. Intention und Durchführung entscheiden – der menschliche Faktor.

    Dies ist eine überarbeitete Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.

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