Von Fremden soll man keine Süßigkeiten annehmen, das lernen wir alle schon als Kinder. Und Getränke genauso wenig – in David Slades „Hard Candy“ zeigt sich nur allzu deutlich, wieso. „Hard Candy“ hingegen ist ein Bonbon, das man durchaus annehmen kann – wenn es auch etwas schwer im Magen liegen dürfte. In nur 18 Tagen abgedreht, ist der Low-Budget-Streifen ein psychologisch anspruchsvoller Rape-And-Revenge-Thriller, den ich euch nur empfehlen kann.
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Das geniale Drehbuch zu „Hard Candy" stammt aus der Feder von Brian Nelson und wurde von Produzent David Higgins entwickelt, der sich dabei von realen Fällen über Online-Predatoren inspirieren ließ: In Japan gab es einen Fall, bei dem Schulmädchen Männer im Internet fanden, die Minderjährigen nachstellten, sich mit ihnen verabredeten und sie dann überfielen.
Ursprünglich war das Skript noch drastischer angelegt, doch Regisseur Slade entschied sich für eine subtilere Inszenierung und stellt damit klar die psychologische Spannung in den Vordergrund. Die begrenzten Schauplätze und die minimalistische Ausstattung dienen dabei nicht nur als stilistische Mittel, sondern sind auch dem kleinen Budget geschuldet – herausgekommen ist ein hochkomplexes Kammerspiel und eine Studie über Macht, Opfer und Täter.
Darum geht's in "Hard Candy"
Die 14-jährige Hayley (Elliot Page) und der 18 Jahre ältere Jeff (Patrick Wilson) lernen sich online kennen und verabreden sich in einem Café. Schnell ist man sich sympathisch und verlegt das Treffen in Jeffs Apartment – wo Hayley auch direkt einen Gang hochschaltet. Sie mixt Drinks, gibt sich gelassen und frei und bietet sich zuletzt sogar für sexy Fotos an.
Das lässt sich der Fotograf, der einen Hang zu jungen Modells hat, nicht zwei Mal sagen – bis er merkt, dass ihm schummrig wird. Als er wieder zu sich kommt, ist er gefesselt, und Hayley fährt andere Geschütze auf. Sie durchsucht seine Wohnung nach Hinweisen zu Pädophilie und dem Verschwinden eines Mädchens. Sie beschuldigt, sie droht. Bis sie zuletzt eine Drohung zu bitterem Ernst werden lässt …
Schauspielerisch ganz groß!
Schauspielerisch bieten Elliot Page und Patrick Wilson sich hier ein Ping-Pong-Spiel vom Feinsten: Pages Wandel vom naiven, süßen Mädchen zum gewaltbereiten, latent psychopathischen Racheengel, ist für mich höchste Kunst und allein seines mimischen Facettenreichtums wegen ist der Film schon sehenswert. Hinzu kommen Dialoge, die absolut auf den Punkt sind – und auch hier geben das Skript und Page sich ein High Five, denn cooler, abgeklärter und überzeugender könnte ein 14-jähriges Gör, das sich gleich daran macht, jemanden zu kastrieren, wohl kaum sein.
So hat es „Hard Candy” auch auf Platz 6 der FILMSTARTS.de-Liste der unerträglichsten Filmszenen aller Zeiten geschafft – und das, obwohl der Vorgang gar nicht explizit gezeigt wird. Muss er auch nicht, denn auf unsere Köpfe ist Verlass: Wie so oft, entstehen die Bilder vor unserem inneren Auge und formen den Ekel. Es genügen die Schweißperlen auf Wilsons Gesicht, die Kommentare Hayleys und ein mit Hoden gefülltes Glas im Anschluss, und der Schauder ist perfekt.
Und die Moral von der Geschicht'…
Moralisch wirft der Film ambivalente Fragen auf: Wer ist hier Opfer, wer ist Täter*in? Fragen, die in Fällen von Selbstjustiz immer unweigerlich mit im Raum stehen. Die Verschiebung und Umkehrung der Machtverhältnisse und Perspektiven ist zweifelsohne die große Stärke des Films – und wird auch auf visueller Ebene ausgetragen, wenn die Kamera zwischen ihren Protagonist*innen hin und her rotiert.
Hinzu kommt eine Farbgestaltung, die die Handlung auf der Bildebene noch intensiviert: Das Blau und Rot der Wände, die Kälte des Apartments, tragen zur Verdichtung der Atmosphäre bei. Ja, „Hard Candy” ist ein provokantes, kontroverses Kleinod, das mit minimalistischen Mitteln seine Wirkung entfaltet – und neben Denkanstößen auch Bilder im Kopf mitliefert, die hängen bleiben.
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