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    Verkürzt euch das Warten auf das "Arielle, die Meerjungfrau"-Remake: Heute feiert ein reifes Nixen-Märchen Free-TV-Premiere
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Eine Nixe verliebt sich in einen Menschen, doch das geht mit einem dramatischen Vertrag einher – lange, bevor Arielle das durchgemacht hat, gab es „Undine“. Heute läuft im Free-TV eine zeitgemäß aufgezäumte, zeitlos-schön erzählte Variante der Mär.

    +++ Meinung +++

    Wenn Disneys „Arielle, die Meerjungfrau“-Realfilm startet, wird es wieder heißen: „Warum gibt es keine neuen Geschichten mehr?!“ Im Affekt nachvollziehbar. Aber wer tief genug taucht, muss erkennen: Unablässiges Neuaufgießen ist beständiger Teil unserer Kultur. Genauso wie Wasserwesen, die unter dramatischen Bedingungen mit Menschen ausgehen! Dieses Motiv war schon in der Antike populär. Nun gut: Es ging zwischenzeitlich unter. Als jedoch posthum Werke des Gelehrten Paracelsus veröffentlicht wurden, in denen er auf die Sage einging und ihren Mittelpunkt „Undine“ taufte, folgte eine Welle der Begeisterung.

    Eine gewaltige Welle, deren Folgen bis heute zu spüren sind: Undine war plötzlich allgegenwärtig. Unzählige Nacherzählungen und Umdeutungen später schrieben unter anderem Goethe und E. T. A. Hoffmann über sie. Das inspirierte Hans Christian Andersen zu „Die kleine Meerjungfrau“ – quasi zu einem Trittbrettfahrerwerk eines Abklatsches eines losen Remakes einer losen Nacherzählung... Ihr versteht schon.

    Undine wurde anschließend von einer anhaltenden Flut an Meerjungfrau-Adaptionen überrollt. Doch ihr könnt heute in ursprünglicheren Gewässern planschen – paradoxerweise, ohne dabei in fremde Gezeiten zu geraten: arte zeigt heute, am 14. Oktober 2022, ab 20.15 Uhr das moderne Berlin-Liebesmärchen „Undine“ als Free-TV-Premiere.

    "Undine": Ein Wasserwesen emanzipiert sich

    Undine ist in den Ur-Sagen zum Unglück verdammt. Sie wird von Männern an Land und in eine menschliche Form beschworen, weil sie in ihr Trost für unerwiderte Liebe suchen. Doch kaum sind sie mit Undine zusammen, werden die Männer von den Frauen begehrt, die sie zuvor abgelehnt haben. Die Männer entscheiden sich stets für ihren vorherigen Schwarm, woraufhin die aus dem Wasser gestiegene Verflossene zur Mörderin wird. Ihr ist nie vergönnt, ihre Rache zu genießen. Sie muss zurück ins Wasser, das sie nicht mehr Heimat nennt.

    Bereits 1961 knöpfte sich Autorin Ingeborg Bachmann in „Undine geht“ diesen Mythos vor und erzählte ihn mit gesteigerter Empathie und taufrischem Emanzipationswillen für die Titelfigur. Fast 60 Jahre später ruderte Regisseur und Autor Christian Petzold in diese Gewässer zurück, um eine erneut modernisierte, weiter emanzipierte Undine heraufzubeschwören. Diese Undine ist eigenständiger und brennt für ihren Beruf als Berliner Stadthistorikerin. Vielleicht sogar zu sehr...

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    Ihre Arbeit nimmt nahezu ihr ganzes Leben ein, so dass sie erschöpft wirkt. Geradezu ausgebrannt. In diesem Zustand von ihrem Partner Johannes (Jacob Matschenz) verlassen zu werden, bringt das Fass zum Überlaufen. Sie will ihn umstimmen. Erinnert ihn mahnend, dass sie ihn töten und danach ins Wasser zurückkehren muss, aus dem sie einst kam – es sei denn, er ändert seine Meinung. Aber Johannes zieht's durch.

    Undine hat nicht die Nerven, entspannt zu reagieren. In Gleichgültigkeit kann sie sich aber auch nicht flüchten – dafür ist ihr das errungene Leben an Land zu wertvoll. Also verbeißt sich in die Absicht, ihre fatale Bestimmung abzuwehren. Dass sie ausgerechnet nun den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) kennenlernt, ist perfekt. Er ist wie vernarrt in ihren Intellekt, ihr Wissen und ihr Wesen – er ist der erste Mann, der sie um ihrer selbst liebt. Undine müsste sich befreit fühlen. Und doch holen Schatten diese Idylle ein:

    Hat sich dieses Mal Undine zweckmäßig verliebt? Klammert sie an Christoph, um Johannes zu vergessen, und das, wozu er sie verdammt hat? Ist zweckmäßige Liebe überhaupt zu verurteilen, oder ist Liebe einfach Liebe? Fragen, die Undine (die Figur) und „Undine“ (der Film) nicht ausdiskutieren, sondern ausbaden – besonnen, welterfahren und doch bezirzend, dem Herzen freien Lauf lassend.

    Eine reife Romanze zwischen Willen und Zweifeln

    „Undine“ lädt dazu ein, einfach mit diesem Paar mitzufühlen und sich gedanklich wie emotional treiben zu lassen. Es bereichert also die Seherfahrung, wenn man die Tradition kennt, in der Petzolds „Undine“ steht. Allerdings steht „Undine“ (der Film) auch selbstbewusst für sich – während Undine (die Figur) eine desillusionierte, vernünftige Frau in einer Phase des wankenden Selbstbewusstseins ist. Das macht diesen Film zu einer zerbrechlichen Geschichte über Willensstärke, unverrückbar scheinende Dinge zu ändern, sowie zu einer bittersüßen Erzählung über eine Liebe, die schön-schlicht sein sollte.

    Fabelhaft von Paula Beer gespielt, ist Undine tief in ihren Sorgen versunken, mutet daher geradezu geisterhaft-verträumt an. Dass diese Frau, die Dingen auf den Grund gehen will, wirkt, als hätte sie den Kopf in den Wolken, führt zu Reibung: Machen die Gegensätze ihre Anziehung aus – und falls ja, macht das ihren Liebsten zu wem, der sie vollauf begreift? Oder zu einem, der zu simpel ist, um diese Phase als „nur eine Phase“ abzutun?

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    Undine will sich entgegen dieser Fragen voll auf die Beziehung einlassen. Aber weil ihr zu viel im Kopf herumgeistert, erlebt sie diese frische Liebe distanziert. Obwohl der von Franz Rogowski mit Hingabe gespielte Christoph eine genügsame Person ist, weckt das Zweifel in ihm. Er beginnt, zu klammern. Aus Verlustangst, ebenso aus Empathie für die Undine, der er Halt geben will. Das engt Undine ein – und verstärkt Christophs Sorgen, die aber nie in ein emotionales Unwetter übergehen:

    Undine und Christoph sind zu lebenserfahren, um einander Szenen zu machen. Romantik entsteht in diesem Film nicht durch wärmend-heimelige Lichter, sondern eingelebte, erfahrene Interaktionen. Ebenso, wie Disharmonie über geknickte Blicke, stockenden Atem und belegtes Schluchzen vermittelt wird, was von Kameramann Hans Fromm in entspannten, entzauberten Bildern eingefangen wird – die Filmeditorin Bettina Böhler aber traumhaft aneinanderreiht.

    Daher ist „Undine“ eine komplexe, aber unaufgeregte, reife Romanze. Eine, die sich weigert, abgeklärt zu sein, aber schon zu viel gesehen hat, um immer noch alles neu und berauschend zu finden. Es ist ein Film über die Liebe nach einer Liebe – inklusive Geborgenheit und Selbstzweifel. Das ist ebenso klug wie hübsch geschrieben. Und es gestattet Beer, eine alte, verprellte Seele in einem jungen Körper zu spielen, der mittelfristig Zuversicht vortäuschen kann, aber auf Dauer müde wird.

    Ob es vergangene Erfahrungen und gesellschaftliche Erwartungen sind, die Undine ihre Zweifel auferlegen, sie sich ihre Pein selbst auferlegt, oder sich diese Dinge gegenseitig bedingen wie Ebbe und Flut... Das kann hier nicht beantwortet werden. In diesen Überlegungen dürft ihr nach „Undine“ selbst versinken.

    Undine
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