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    Joy Division
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Joy Division
    Von Sascha Westphal

    Von der damals wegweisenden, mittlerweile einfach nur legendären englischen Band Joy Division zu sprechen, heißt auch, von der Stadt, Manchester, und von der Zeit, den späten 70er Jahren, zu sprechen. Die Gruppe und ihre Musik lassen sich um keinen Preis von dem Umfeld trennen, aus dem sie hervorgegangen sind. Bis zu einem gewissen Grat gilt das natürlich für jede Musikrichtung, jede Band und jeden Musiker. Doch in diesem Fall sind die Bindungen enger und stärker als sonst. Joy Division war anders als die Buzzcocks und The Fall, die Happy Mondays und auch The Smiths nicht nur eine Band aus dieser Stadt, in der im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution ihren Anfang nahm, sie waren Manchester. In den düsteren Klangwelten und Texten ihrer Songs hat die vierköpfige Gruppe den Geist dieser Metropole auf einzigartige Weise eingefangen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt scheinen in ihren Liedern zusammenzufließen. Diesem Phänomen muss sich jeder Filmemacher stellen, der sich dem Werk und der Geschichte der Band nähert. Darin liegt eine beispiellose Herausforderung, aber auch eine ungeheure Chance. Und die hat der Kameramann und Videoclip-Regisseur Grant Gee bei seiner Dokumentation „Joy Division“ auch ergriffen. Letztlich schöpft er vielleicht nicht das ganze historische und künstlerische Potential aus, das in der Geschichte dieser Band liegt. Aber er zeichnet in seinem Film ein weitaus größeres und vielschichtigeres Panorama als viele andere Musik-Dokumentationen, die sich so oft damit begnügen, nur den Mythos einer Band zu befestigen.

    Zunächst sind da Bilder von niederschmetternder Tristesse. Die kleine bei Manchester gelegene Gemeinde Macclesfield, in der Joy Division ihre Heimat hatte, kann stellvertretend für all die englischen Industrie- und Arbeiterstädte stehen, die besonders hart von der Rezession in den 70er Jahren getroffen wurden. Wer dort in einem der nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs errichteten Wohnblöcke lebte, hatte kaum eine Chance. Alleine die Musik, die aufkommende Punk-Bewegung, bot eine Art Ausbruchsmöglichkeit: Punk führte zwar nirgendwo hin, aber in ihm fand die allgegenwärtige Wut über die Verhältnisse ein Ventil. Also beschlossen Bernard Sumner, Peter Hook und Terry Mason im Juni 1976, während des ersten Konzerts der Sex Pistols in Manchester, selbst eine Band zu gründen. Nach einem Sänger suchten sie mit einer Anzeige, auf die sich Ian Curtis meldete. Mason wurde bald durch Tony Tabac, der wiederum durch Steve Brotherdale ersetzt. Der 1956 geborene Curtis, der seit Jahren Gedichte und Songtexte schrieb, wurde schnell zum Zentrum und Kopf der Band, die sich damals Warsaw nannte. Nach dem Ausscheiden von Steve Brotherdale stieß schließlich Stephen Morris als Schlagzeuger hinzu.

    Grant Gee erzählt die kaum mehr als drei Jahre umspannende Geschichte der Band, die sich im Januar 1978 in Joy Division umbenannte, weitgehend chronologisch. Gerade einmal zwei Studioalben haben die vier Musiker produziert, bevor sich der an Epilepsie und schweren Depressionen leidende Ian Curtis am 18. Mai 1980 das Leben nahm. Aber diese beiden Platten und die vielen Mitschnitte ihrer Live-Auftritte reichten, um Joy Division zu einer Legende zu machen. Sie, die noch als Punk-Band begonnen hatten, transzendierten in kürzester Zeit die Grenzen dieser Stilrichtung und läuteten mit ihren von Martin Hannett produzierten Platten die Post-Punk-Ära ein. Alleine das wäre schon genug Stoff für mehr als nur eine Dokumentation – schließlich lässt sich diese Geschichte nicht von der des Fernsehmoderatoren und Clubbesitzers Tony Wilson trennen, der mit seinem eigenen „Factory“-Label Manchester in den späten 70er und frühen 80er Jahren zum vielleicht wichtigsten Zentrum der englischen Musikszene gemacht hat. Aber Gee will sich nicht mit einer Chronik der Ereignisse begnügen. Die Stationen auf dem Weg zum Ruhm sind nur der Aufhänger für eine fast schon avantgardistische Annäherung an eine Stadt und eine Ära.

    „Cut-up“ – das ist das zentrale Stichwort, nicht nur für die Ästhetik der Punk-Bewegung und für Ian Curtis’ künstlerische Ideen, sondern auch für Grant Gees Vorgehensweise. Die Ursprünge der literarischen Cut-up-Technik liegen in den Werken der amerikanischen Beat Generation, vor allem in den Arbeiten von William S. Burroughs, den Curtis enorm bewundert hat und der neben J.G. Ballard, Franz Kafka und Dostojewski wohl den größten Einfluss auf dessen eigenes Schreiben hatte. Ein Text wird erst zerschnitten und dann wieder neu zusammengesetzt, so entsteht ein collagenhaftes Werk, das klassische Denkweisen und konservative Vorstellungen davon, wie literarische Texte Bedeutung generieren, nachhaltig außer Kraft setzt. Im Punk wurden Cut-up-Collagen zum zentralen Stilmittel. Davon zeugen nicht nur alte Fanzines und Plakate. Gee wagt sich mit „Joy Division“ an eine filmische Cut-up-Technik. So wie er alte Aufnahmen aus den 70er und 80er Jahren mit eigenem Material von heute und klassischen Talking-Heads-Interviewsequenzen, in denen neben Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris unter anderen auch Curtis’ Geliebte Annik Honoré, sein Freund Genesis P. Orridge, der Factory-Gründer Tony Wilson und der Designer Peter Saville zu Wort kommen, zusammenmontiert, entsteht ein atmosphärisch extrem aufgeladenes Porträt der Band, das letztlich eher an einen Essayfilm als an eine typische Dokumentation erinnert.

    Nach dem Tod von Ian Curtis haben die anderen drei Band-Mitglieder Joy Division aufgelöst, und damit ein Versprechen gehalten, das alle vier zuvor gegeben hatten: In dem Moment, in dem einer von ihnen aus der Gruppe ausscheidet, sollte dies ihr Ende sein. Kurz darauf haben sich Sumner, Hook und Morris dann unter dem Namen New Order neuformiert. Jahrelang haben sie weder in der Öffentlichkeit über Curtis und seinen Selbstmord gesprochen noch bei Konzerten die alten Joy-Division-Songs gespielt. Mittlerweile finden sich in ihrem Live-Repertoire nun doch einige Stücke aus dieser Zeit. Insofern ist es nur konsequent, dass Sumner, Hook und Morris ihr Schweigen vor Gees Kamera gebrochen haben. Trotzdem sind gerade die Interview-Passagen, die direkt auf die Ereignisse im Mai 1980 Bezug nehmen, äußerst bemerkenswert. Keiner der Drei – und das ist offensichtlich – hat sich bisher gänzlich aus dem Schatten lösen können, den Curtis’ Tod über sie und ihr Schaffen geworfen hat. Die alten Schuldgefühle sind immer noch da und allem Anschein nach noch genauso mächtig wie damals. Musikalisch haben sie sich als New Order zwar von Joy Division emanzipiert, aber all ihre späteren Erfolge wiegen letztlich den Verlust von Curtis nicht auf.

    Einmal lagert Gee Bilder und Töne von zwei Auftritten übereinander, einer mit und einer ohne Curtis – der Unterschied könnte größer kaum sein. Aber zugleich erzählt diese ausgefallene Montage auch etwas über den Fluss der Zeit: Manchester 1980 und Manchester heute, das sind im Endeffekt zwei verschiedene Städte. Aus der heruntergekommenen Industriestadt ist mittlerweile wieder so etwas wie eine Metropole geworden. Die alten Häuser und Wohnblöcke gibt es nicht mehr, an ihrer Stelle stehen nun Bürogebäude und schicke Appartement-Tower – die Segnungen der neoliberalen Ära der Thatcher- und Blair-Jahre. Das könnte durchaus als eine Art Fortschritt durchgehen ... nur liefert den Soundtrack dazu New Order. Für Joy Division gäbe es in diesem neuen, gentrifizierten Manchester sowieso keinen Platz mehr. Insofern sind die wohl aussagekräftigsten Einstellungen des Films letztlich die, die das neue Gesicht der Stadt zeigen und dabei gleichzeitig auf die Orte verweisen, an denen Joy Division einst Geschichte geschrieben hat, die es heute aber nicht mehr gibt.

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