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    Vinyan
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Vinyan
    Von Jan Hamm

    Anders als die endlosen Weiten des Alls mögen die Dschungel dieser Welt zwar kartographiert sein, als monströse Projektionsfläche stehen sie der Final Frontier jedoch in nichts nach. Und das nicht nur, wenn RTL die C-Promis der Nation einmal mehr zu merkwürdigen Camp-Zeremonien zusammentrommelt. Im triefenden Dickicht des Urwaldes haben mit Joseph Conrads „Herz der Finsternis" erst die Literatur und vor allem dank Aguirre, der Zorn Gottes und Apocalypse Now auch das Kino ein mächtiges Bildnis der Psyche erschlossen. Oder besser: ihrer schwärzesten Seiten. Wenn der Belgier Fabrice Du Welz also ein Ehepaar auf einem Fluss dahingleitend in die finstere Flora Burmas entsendet, ist kaum mit einem Happy End zu rechnen. „Vinyan" begeistert mit suggestiven Bildern und psychedelischem Sounddesign. Nur hier und da, etwa in effekthascherisch markierten Traumsequenzen, fehlt Du Welz das Selbstbewusstsein, den Fluss unwirklicher Impressionen für sich selbst sprechen zu lassen. Wohlig-schauriges Entertainment hat „Vinyan" nicht zu bieten, der Fokus liegt hier auf der Innenschau verwundeter Seelen.

    Wie soll man den Verlust eines Menschen verarbeiten, dessen Tod nie bestätigt wurde? Seit der Tsunami-Katastrophe 2005 in Thailand trauern Jeanne (Emmanuelle Béart, Wie in der Hölle, Mission: Impossible) und Paul (Rufus Sewell, Dark City, Tristan und Isolde) um ihren Sohn Joshua. Mit ihrem Engagement in Krisenregionen sucht Jeanne nach Kompensation, während Paul die Umstände zu akzeptieren gelernt hat. Als auf einer Spendengala ein Dokumentarfilm über Hilfsarbeiten in Burma gezeigt wird, glaubt die verzweifelte Mutter, Joshua unter den nativen Kindern entdeckt zu haben. Unmöglich scheint das nicht, immerhin wurden im Chaos nach dem Desaster zahlreiche Waisen von Menschenhändlern entführt und verkauft. Trotz dessen Skepsis ringt Jeanne ihrem Mann eine Reise zum Ort der Aufnahme ab. Die erste Hürde scheint genommen, als sie im mysteriösen Thaksin Gao (Petch Osathanugrah) einen lokalgewandten Führer finden. Doch je tiefer das Paar in den Dschungel eindringt, desto brüchiger wird der dünne Wall zwischen Wahn und Wirklichkeit...

    Vinyans, das sind Geister, die ob eines abrupt-gewaltsamen Todes keine Ruhe findet und fortan verloren umherstreifen. Vom inzwischen inflationär präsenten Japan-Horror à la The Grudge oder The Ring ist der Film aber meilenweit entfernt. Stattdessen radikalisiert Du Welz Ansätze aus Nicolas Roegs Klassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen und geht damit in eine ähnliche Richtung wie zuletzt Lars von Trier mit Antichrist: Der Verlust eines Kindes führt zur Entgrenzung einer zersplitterten Psyche, zur Entfesselung rasender Körperlichkeit. Dass Du Welz – wie auch von Trier - diese Eruption seiner Mutterfigur zuschreibt, dürfte ein gefundenes Fressen für Psychoanalytiker und Genderspezialisten sein.

    Ganz gleich, ob die Inszenierung des matriarchalischen Strafgerichts über die Schuld der Väter nun Frauenfeindlichkeit bezeugt, oder doch einer tiefen Ehrfurcht entspringt – das infernalische Unbewusste, eben die Angst an sich, kennt nun mal keine politische Korrektheit. So ist es auch nur konsequent, dass Du Welz seine fantastisch fotografierte Südasien-Kulisse als Albtraumbühne voll ausreizt, ohne dem Zeitgeist folgend ethnologische Säuselei oder Junta-Anklagen aufzufahren. Bereits das Intro, eine hypnotisch-abstrakte Darstellung des Todeskampfes im Tsunami, vermittelt die Idee verstörender Orientierungslosigkeit, die den Film über kontinuierlich ausgebaut wird. Etwa bei Jeannes Suche nach Thaksin Gao in einem Rotlicht-Viertel Phukets, die die Kamera als wirbelnde Geisterbahnfahrt einfängt.

    Die atmosphärischen Highlights kommen freilich mit dem Eintritt ins Reich des Dschungels: etwa das im Nachtschwarz gespenstisch glühende Kerzenritual zur Befreieung verwirrter Geister oder die unvermeidliche Flussfahrt entlang den mit stummen Kindersilhouetten gesäumten Ufern. Kaum verwunderlich also, dass die Protagonisten da auch mal schlecht schlafen. Die stilistische Abgrenzung dieser Traumsequenzen hat dabei keinen Mehrwert, lässt Du Welz Traum und Wirklichkeit doch ohnehin zunehmend ineinander fließen. Spätestens, wenn sich die beängstigend gute Emmanuelle Béart auf den Spuren eines Colonel Kurtz zur mythischen Urmutter des Dschungels aufschwingt, bestätigt sich „Vinyan" als surreal-hintersinniges Horrordrama – und als würdige Variante der Conrad'schen Reise ins Herz der Finsternis.

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